Über den etwas ungewöhnlichen Verlauf des Jahres 2020 sind in den letzten Monaten genug kluge und weniger kluge Worte verloren worden, sodass ich mir die Freiheit herausnehme, an dieser Stelle nicht den vermeintlichen Mangel an Filmen zu beklagen, gab es doch auch 2020 genug langweilig-öde (Knives Out, Dolittle) bis milde amüsante (Underwater, Bad Boys for Life) amerikanischen Semigroßproduktionen zu bestaunen.
Vielleicht einleitend noch ein paar Filme, die es aus diversen Gründen nicht in die Liste geschafft haben, trotz ihrer teilweise großen Qualität:Little Women (USA, Greta Gerwig): Exzellent gespielte und sehr frisch inszenierte Literaturverfilmung, die leider im letzten Drittel etwas zu kränkeln beginnt, weil die metatextuelle Auseinandersetzung mit weiblichen Biographien in der Roman-Literatur konzeptionell gut gebaut, aber leider beim Schauen eher clever denn wirklich interessant wirkt.
J'Accuse (Frankreich, Roman Polanski): Ohne hier in die genauen Details der Causa Polanski abzutauchen ist J'Accuse bemerkenswert, besonders in der Hellsichtigkeit, in der er den inhärenten Antisemitismus des Glauben an nationale Institutionen und seine Auswirkungen auf Alltäglichkeiten beschreibt.
A Hidden Life (USA, Terrence Malick): Ungeheuer berührend.
Undine (Deutschland, Christian Petzold): Natürlich super und vor allen Dingen von Maryam Zaree ausgezeichnet gespielt, aber mich lässt das Gefühl nicht los, dass Petzold hier das erste Mal seit langer Zeit zu Erstarren droht, weil Undine in einigen Moment etwas zu genau gebaut ist, die Räder zu treffend ineinander greifen und vielleicht auch weil Paula Beer (noch) nicht die Schauspielpersönlichkeit ist, um in einer solchen Rolle mehr als ein Geist zu sein.
Tenet (USA, Christopher Nolan): Ich habe fast alle Nolan-Filme in diesem Jahr als Vorbereitung auf den Kinobesuch noch einmal gesehen, wenig überraschenderweise sind die meisten immer noch blöd, aber an Tenet hatte ich viel Freude, was bestimmt nicht zuletzt an seinem Alleinstellungsmerkmal als Überwältigungsfilm des Kino-Sommers lag. Pattinson und Washington sind super und ich hatte noch nie so sehr das Gefühl in einem Nolan-Film Eskapismus finden zu können.
Zwei TV-Serien, die das Jahr heimgesucht haben: Berlin Alexanderplatz (BRD, Rainer Werner Fassbinder) und Going My Home (Japan, Hirokazu Kore-eda)
Und nun die besten neuen Filme 2020, wobei ich mit der Jahreszahl üblicherweise nicht allzu pingelig umgegangen bin:
10. Richard Jewell - Clint Eastwood
Eastwoods Projekt einer Art Heldenkartographie, welches mindestens so alt wie Eastwoods Regie-Karriere ist, findet in Richard Jewell eine faszinierende Fortentwicklung. Normalerweise sind Helden bei Eastwood irgendwann in ihrer Geschichte gebrochen worden, man denke an den dahinsiechenden Honkytonk Man oder den alkoholkranken und vom ihm entgegen schlagenden Rassismus ermüdeten Ira Hayes in Flags of our Fathers. Richard Jewell hingegen war nie vollständig und vielleicht sogar nie ein Held, sondern ein Gefangener, dessen fanatische Obrigkeitsgläubigkeit, das Vertrauen in die eigenen Wärter, sich unaufhaltsam gegen ihn wendet und der nach dem Verrat den Rest seines Subjektdaseins verliert, nur noch Objekt für die wunderbar fies von Olivia Wilde dargestellte Journalistin. Ein Film für 2020.
9. Fanny Lye Deliver'd - Thomas Clay
Obwohl der Film im England des 17. Jahrhunderts spielt, hat mich Fanny Lye Deliver'd am ehesten an die besten Italowestern von Enzo Castellari und Sergio Corbucci erinnert, nicht nur wegen seiner Brutalität, sondern auch wegen der Art und Weise, wie an einer sehr einfachen Prämisse große politische Konflikte verhandelt werden. Charles Dance in seiner üblichen Post-Game-of-Thrones-Rolle als Variante des Tywin Lannister war nie fieser und beunruhigender als hier. Ein gemeiner, harter Film, der seinen zentralen Konflikt zwischen Puritanismus und aufkommender Liberalisierung nie vollständig aufzulösen weiß - was Thomas Clay hoch anzurechnen ist.
8. The Orphanage - Shahrbanoo Sadat
Sadats Nachfolger zum ebenfalls ganz ganz tollen Wolf and Sheep schließt noch mehr an die Filme Kiarostamis an, wenn man denn die ganz großen Vergleiche bemühen möchte. The Orphanage ist ein Film über die Liebe zu Film, ein Film über die Art und Weise, wie der Blick auf den Film den Blick auf die Welt verändern und sogar ersetzen kann. Am Ende triumphiert Bollywood auch im Kabul des Jahres 1989 über die Geschichte, aber The Orphanage lässt auch keine Zweifel darüber, dass der Sieg des Films immer nur ein retrospektiver sein kann. Verloren gegangene Menschen kann auch das Kino nicht zurückbringen.
7. Wasp Network - Olivier Assayas
Wasp Network ist ein völlig anderer Film als der naheliegende Vergleichspunkt Carlos, weil er viel weniger dringlich und nicht interessiert an mythologischer Fortschreibung der Geschichte des 20. Jahrhunderts ist. Assayas interessiert sich für die Auswirkungen, die internationale Konflikte auf die identitären Selbstzuschreibungen ihrer Akteure haben, nur ist das in Wasp Network nicht ansatzweise so langweilig, wie es in der fünften Sitzung jeder IB-Einführungsvorlesung zum Konstruktivismus klingt, sondern ein Affront gegen das starre Verständnis der internationalen Politik. Kein Wunder dass die amerikanischen Kritiker auch diesen Assayas nicht mochten.
6. Labyrinth of Cinema - Nobuhiko Obayashi
Ein weiterer Film über die Verbindungen zwischen Realität und Film und die Art und Weise, wie das Erleben des Einen den Blick für den Anderen schärfen kann. Anders als Sadat stand Obayashi am Ende seiner Karriere und so ist Labyrinth of Cinema immer auch eine Art Bilanz eines Lebens im Film, ohne dabei in nostalgische Melancholie zu verfallen. Darin ähnelt er Spike Lees Netflix-Film Da 5 Bloods, zerrissen vom eigenen Verhältnis zur Geschichte, der Angst vor der Bedeutungslosigkeit und besonders der Panik vor dem Vergessenwerden. Vorraussetzung für den Kriegsfilm ist leider immer der Krieg, aus dieser Zwickmühle kommt auch Obayashi nicht raus.
5. Sibyl - Justine Triet
Sibyl zieht sich immer wieder den Boden unter den eigenen Füßen weg, das gilt sowohl für den Film als auch für seine titelgebende Hauptfigur. Die einzige psychologische Konstante im Leben ist die retrospektive Konstruktion von Sinnzusammenhängen, Unmöglichkeiten und sogar Vaterschaften. Triet gelingt es aber scheinbar mühelos die verschiedenen Ebenen und thematischen Brüche des Films zu einem kohärenten Ganzen zusammenzuführen, eine Fähigkeit, die mit sie ihrer französischen Kollegin Mia Hansen-Love teilt, an deren Filmen mich Sibyl in seinen besten Momenten erinnert hat. Immer in Bewegung bleiben.
4. The White Storm 2: Drug Lords - Herman Yau
Ein brutaler, fatalistischer Film, der in Gewalt beginnt und in Gewalt endet. Hong Kong als stadtgewordener Kapitalismus ist in Yaus Filmen nichts neues (man denke nur an den tollen A Home With A View aus dem letzten Jahr), aber in The White Storm 2 bleibt am Ende nichts, nur der Tod.
3. Das freiwillige Jahr - Henner Winckler & Ulrich Köhler
Ulrich Köhler blickt tief in die Abgründe der deutschen Seele und findet wässerige Suppe. Der Horror der niedersächsischen Provinz, Väter, die gelesen haben, dass das städtische Theater ja deutlich schlechter als früher geworden sein soll.
2. À l'abordage! - Guillaume Brac
Der schönste und entspannteste Film des Jahres, zwei Freunde wollen einem Mädchen hinterher reisen, treffen dabei einen dritten und verbringen eine Woche auf einem Zeltplatz am Wasser, einer rennt dem Mädchen seiner Träume hinterher, einer freundet sich mit einer Mutter und ihrem Kind an, einer möchte doch nur sein Auto repariert haben. Voll von toll beobachteten Szenen, sympathischen, aber nicht simplen Figuren und ein bisschen das Versprechen eines Sommers. Könnte bei entsprechender Verfügbarkeit zum Klassiker des Sommerkinos werden - die Vorstellung mit Felix, Cherif und Edouard ein Eis zu essen und dabei amüsiert einer Theatervorführung für Kinder zuzusehen ist es jetzt schon. Immerhin ein kleiner Trost für den größtenteils verlorenen Sommer und ein schöner Anlass, seine Freunde zu vermissen.
1. Il traditore - Marco Bellocchio
Normalerweise sind Listen wie diese hier immer mit der Einschränkung versehen, dass die Reihenfolge der Filme sehr tagesformabhängig ist und sich dementsprechend jederzeit ändern könnte, doch in diesem Jahr gibt es für mich so etwas wie den besten Film des Jahres, sogar mit einigem Abstand. Marco Bellocchio hat leider aus diversen Gründen nie den Status seines leider verstorbenen Kollegen Bernardo Bertolucci erreicht, obschon er seinen Platz im Pantheon der großen westeuropäischen Autorenfilmer ohne jeden Zweifel verdient hätte. Il Traditore führt einige Entwicklungslinien in Bellocchios Werk weiter, die Auseinandersetzung mit der italienischen Familie als Ort stetiger Krise des Katholizismus, Marxismus, Faschismus und der Psychoanalyse. Gibt es überhaupt noch einen Regisseur in Europa, der mit einem solchen Sinn für Opernhaftigkeit inszenieren kann, wie es Bellocchio hier in den irrsinnigen Szenen bei den Maxi-Prozessen tut? Eine letzte Zigarette mit Giovanni Falcone, ein letztes Photo mit den Kindern, eine letzte Konfrontation mit Toto Riina. Auch räumliche Flucht, ob nach Brasilien oder in die USA, ist zum Scheitern verurteilt. Am Schluss steht die Gewissheit vom Warten auf die Kugel.
Und sonst noch: Ludwig Augustinsson, der den Ball in der Nachspielzeit unter die Latte des Heidenheimer Tores donnert. Elena Ferrantes Das lügenhafte Leben der Erwachsenen. Und wie immer die Herren Reacher und Maigret.
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