Das
Ende der Dekade bedeutet für mich auch dass Ende meiner ersten, in
Ermangelung eines besseren Worts, cinephilen Dekade. Ein hübscher
Zufall, dass am Ende dieser Dekade zwei Regisseure ganz oben in
meiner Jahresendliste stehen, die für viele einen Einstiegspunkt in
die Filmgeschichte darstellen. Viele Worte möchte ich dieses Jahr
nicht verlieren, deswegen sei nur einmal Kristen Stewart gedankt,
ihretwegen bin ich damals, in der Mitte der Dekade, in Die Wolken von
Sils Maria gegangen, Assayas hat mich dann zu Michael Mann, Hou
Hsiao-Hsien, Jia Zhangke, Jean Renoir gebracht und dann war das Kind
auch schon in den Brunnen gefallen.
10
The Mule – Clint Eastwood
Der
Maestro nur auf Platz 10, könnte aber genauso gut in den Top 3
landen, weil er Eastwoods Spätwerk und seine Idee von einer Art
mitfühlenden Konservatismus um eine neue Facette bereichert. Im
Prinzip ist The Mule ein Film über Beleidigungen und den
persönlichen respektive gesellschaftlichen Umgang mit ihnen. Aber
ich bin der festen Überzeugung, dass für die letzten Filme von
Clint Eastwood das gleiche gilt wie für das Spätwerk von Terrence
Malick: Die Argumente sind ausgetauscht und beide Fraktionen haben
eine gegen Null tendierende Chance, die jeweils anderen von ihrer
Begeisterung respektve ihrem Missfallen zu überzeugen.
9
Zwischen den Zeilen – Olivier Assayas
Leider
habe ich WASP Network noch nicht gesehen, aber mir scheint es so als
ob Assayas nach seiner Kristen-Stewart-Phase etwas an Ansehen
verloren hat, was Zwischen den Zeilen nun wirklich nicht verdient
hat, ist er doch der böseste Film den Assayas seit Jahre gemacht
hat, im Prinzip eine Art doppelbödiger Umsetzung der aus
Houellebecq-Romanen bekannten Idee eines verschwindenden Bürgertums,
welches sich seiner eigenen Auflösung nicht bewusst ist und immer
noch darum kämpft, eine Fassada aufrecht zu erhalten, obwohl das
Haus dahinter schon längst nur noch als digitaler Ort existiert. Ein
Film über veraltete Menschen, kein veralteter Film.
8
Hanne – Dominik Graf
Apropos
Auflösungen: Hanne von Dominik Graf ist auch ein Film über (Nicht-)
Auflösungen, genau wie sein anderer diesjähriger Film, Die Lüge,
die wir Zukunft nennen, befindet sich Hanne bis zum zwiespältigen
Finale in einem Schwebezustand, nicht nur aufgrund der unklaren
Krankheitssituation von Iris Berbens Hanne, sondern auch wegen seiner
formalen und narrativen Fließbewegungen. Und außerdem: Hanne kommt
meiner Idealvorstellung eines deutschen Films mit einem Auge für
regionale Besonderheiten schon recht nahe, eine wahre Wohltat nach
den Dekaden der ewigen Berlin-Zentriertheit des Neuen Deutschen
Hipsterfilms (looking at you, Victoria und Oh Boy).
7
Instant Family – Sean Anders
Wenn
Mark Wahlberg genau darüber im Bilde ist, was Regie und Film von ihm
verlangen, gibt es kaum einen amerikanischen Schauspieler, dem ich
lieber zusehe. Sean Anders wird oft zu Unrecht belächelt (von einem
Filmkritikerpublikum, dass die komischen Elemente in Arthouse-Filmen
über-, in Mainstreamkomödien untertreibt), sind besonders That's My
Boy und eben jener Instant Family faszinierende Auseinandersetzungen
mit den Grenzen der Konzeption der amerikanischen Kernfamilie, aber
wesentlich weniger didaktisch als vielmehr neugierig und von einer
ergebnisoffenen Ambivalenz.
6
Neue Götter in der Maxvorstadt – Klaus Lemke
Lemkes
patentierte Mischung aus Ranzigkeit, Fabulierfreude und
Selbstbewusstsein kann man kaum in Worte fassen. Muss man auch nicht,
als der Darsteller des Bösewichts verschwindet, erzählt Lemke ja
kurzerhand selbst davon.
5
Ash Is Purest White – Jia Zhangke
Wie
jeden seiner Filme sollte man Ash Is Purest White (der deutsche Titel
Asche ist reines Weiß missfällt mir) wahrscheinlich am Besten
Dutzende Male sehen um den ganzen Reichtum der Idee einer Art
rückblickenden chinesischen Kinogeschichtsschreibung
hundertprozentig nachvollziehen zu können, aber auch beim ersten Mal
sehen erschlägt einen Ash Is Purest White förmlich mit seiner
stilistischen Sicherheit, Zhao Taos wie üblich brillianter
Performance (es erscheint nicht vermessen, die Partnerschaft zwischen
den beiden als die fruchtbarste Regie/Schauspiel-Paarung der Dekade
zu bezeichnen) und seiner tiefen Zerrissenheit hinsichtlich einer
Idee von Heimat, dem Werk Jia Zhangkes und dem eigenen Platz im China
der Gegenwart.
4
A Home With A View – Herman Yau
Kaum
jemand hat Home With A View gesehen, was außerordentlich bedauerlich
ist, schließlich ist Herman Yaus komödiantische Auseinandersetzung
mit den Wirrungen einer finanziell schlecht gestellten Familie im
turbokapitalistschen Gegenwarts-Hongkong nicht weniger als der
politisch wahrscheinlich klarsichtigste und aufregendste Film des
Jahres. Anders als der etwas arg gehypte Parasite ist Herman Yaus
Film nicht daran interessiert, eine simplifizierte Idee von
Klassengrenzen in einer Versuchsanordnung durchzuexerzieren, er wirft
vielmehr grundsätzlich die Frage auf, was passiert, wenn den
Menschen der (symbolisch extrem aufgeladene) Blick auf den Horizont
genommen wird. Eine weitere Empfehlung sei hier gestattet: Yaus Film
An Inspector Calls von 2015 hat ähnlich viel Spaß am Ausprobieren
von formaler Grandezza und steht A Home With A View in Sachen
sozialer Scharfsinnigkeit in Nichts nach.
3
Giraffe – Anna Sofie Hartmann
Vermutlich
der europäischste Film der Liste, dreht sich Giraffe um die
Erlebnisse einer Ethnologin und eines polnischen Gastarbeiters, die
sich durch einen zufälligen gemeinsamen Beschäftigungsort kennen
und lieben lernen. Dieser Beschäftigungsort ist die dänische Seite
beim Bau der Fehmarnbeltquerung, sie versucht in leerstehenden
Häusern Antworten auf Fragen nach Heimat, Veränderung,
Generationenwechsel zu finden, er versucht Geld beiseite zu legen und
seine eigentliche Heimat Polen nicht zu vergessen. Die Implikationen
der Konstellation scheinen eindeutig: Globalisierung führt zu
Entwurzelung etc., aber Hartmann ist eine viel zu kluge Filmemacherin
um sich auf derart simple Antworten einzulassen. Dokumentarische
Bilder und Interviews wechseln sich ab mit extrem stilisierten und
wahnsinnig toll konstruierten Aufnahmen des Paares, denn genau wie
das Paar befindet sich der Film immer auf der Suche nach
Gemeinschaftlichkeit und kommt am Ende zu keinem Schluss, sondern
traut es sich zu, keine Antworten geben zu müssen.
2
The Irishman – Martin Scorsese
Ich
gehöre zu den verhältnismäßig wenigen glücklichen Menschen,
denen es vergönnt war, den neuen Scorsese gleich zweimal im Kino zu
sehen und bei aller persönlichen Geschmacksentwicklung in den
letzten Jahren wurde mir bewusst, wie wichtig mir Scorsese und DeNiro
als Filmschaffende sind. The Irishman ist ein faszinierender
Schlussstrich, der wie jeder gute Schlussstrich eigentlich ein Anfang
ist. Wie jeder der besten Scorsese-Filme (Silence, Goodfellas, Wie
ein wilder Stier, The King of Comedy, die Liste ist lang) hat The
Irishman unzählige Themen und mögliche Ansatzpunkte für eine
Analyse, bei allem intellektuellen Spaß, den man mit The Irishman
haben kann (und den ich auch hatte), bleibt am Ende Anna Paquins
Frage, warum ihr Vater sich noch nicht bei der mutmaßlich frisch
verwitweten Mrs. Hoffa gemeldet hat.
1
Once Upon A Time In Hollywood – Quentin Tarantino
Ich
finde, dass es wenig Filme gibt, die sich wirklich mit
Männerfreundschaften im eigentlichen Sinne beschäftigen, also nicht
mit "Bromances" oder Rivalitäten, sondern mit zwei
Männern, die miteinander befreundet sind, ohne dass eine wie auch
immer geartete Folie des "Toxischen" über die Beziehung
der beiden gelegt werden muss. Tarantino ist dies in einer für mich
sehr berührenden Art und Weise gelungen, Cliff Booth und Rick Dalton
gehören mit all ihren Fehlern und Großzügigkeiten zu den besten
und interessantesten Filmfiguren des Jahres und auch die einzig
wirklich kontroverse Szene des Films (das große Finale – die
Bruce-Lee-Sequenz als gezielte Provokation, die zudem im Laufe des
Films auch noch relativiert wird mag ich nicht als kontrovers
bezeichnen) finde ich in ihrer Deutungsoffenheit mindestens
faszinierend. Margot Robbie etabliert sich mit ihrer Sharon Tate
endgültig als Filmstar und Tarantino war für mich nie
interessanter, als wenn Brad Pitt und Leonardo DiCaprio zusammen ein
Bierchen zischen und sich gemeinsam eine Episode der FBI-Serie
ansehen.
P.S.
10
Filme der Dekade:
Don't
Go Breaking My Heart – Johnnie To
Vamps
– Amy Heckerling
The
Week Of – Robert Smigel
Detective
Dee and the Four Heavenly Kings – Tsui Hark
Transit
– Christian Petzold
The
Assassin – Hou Hsiao-Hsien
Alles
Was Kommt – Mia Hansen-Love
4:44
Last Day On Earth – Abel Ferrara
Right
Now, Wrong Then – Hong Sang-Soo
Die
geliebten Schwestern – Dominik Graf
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