Es ist eine eigentümliche Eigenschaft des
Filmfestivals in Braunschweig, dass das Programm auf eine sympathische Art und
Weise unsortiert wirkt. Dies bietet nicht nur ein gewisses
Überraschungspotential, sondern lässt einen auch dort Zusammenhänge und
Verbindungen suchen, wo eigentlich keine zu sein scheinen. Dabei lässt sich
erkennen, in wie viele verschiedene Richtungen sich das Bewegtbild orientieren
kann, welche Formatierungen es durchlebt.
In THREE FACES, dem neuen
Jafar-Panahi-Film, wird der Film als Medium aus verschiedenen Richtungen
betrachtet. Zum einen thematisieren die stets rätselumwoben Produktionsgeschichten
von Panahis Filmen immer schon ihre reine Existenz, da diese bereits ein
politisches Statement bedeuten, zum anderen geht es in diesem Film um die Reise
zweier wichtiger iranischer Künstler auf der Suche nach einem vermeintlich
toten Mädchen, die auch gerne Schauspielerin werden möchte. Anders als in TAXI
nimmt Panahi sich öfter aus dem Bild, nicht zuletzt daher rührt auch der
Verdacht, er habe dies alles nur für seinen neuen Film inszeniert. Das Dorf, in
dem sich ein Großteil der Handlung abspielt, stellt ein Bild der iranischen
Gesellschaft außerhalb der großen Stadt dar. Das Auto, welches den ganzen Film
über im Bild präsent ist, ist das Zentrum dieser Erzählung. In ihm wird sich
immer wieder versammelt, sich unterhalten, geschlafen und gegessen. Die
grundsätzliche Sympathie und Leichtigkeit, die aus THREE FACES herausspricht,
kommt ihm sehr zugute. Panahi vereint eine Reflexion dessen, was und unter
welchen Bedingungen Kunst existieren kann, mit einem sehr gut geschriebenen
Drehbuch und einer Kamera, der man bis zum Schluss eigentlich kaum Vertrauen
entgegenbringen kann, da der Möglichkeitsraum der Kunst und des Kinos, und das
ist vielleicht die schönste These des Films, so unendlich weit in die Wüste
hineingehen kann.
Unendliche Weiten und Blicke in die Tiefe
des Bildes und des Abgrunds lassen sich auch in BIRDS OF PASSAGES finden. Die
in vier Akten erzählte Geschichte des Untergangs einer Familie der Wayus mitten
im Nirgendwo im Kolumbien der 1970er-Jahre, ist ein Film, der sich weder
scheut, große Gesten zu zeigen, noch seine epochale Größe zu präsentieren. Der
Film vermischt eine ethnographisch anmutende Untersuchung der Traditionen und
Riten der Wayus mit einer Mafiageschichte, bevor es die kolumbianische
Drogen-Mafia überhaupt in der heutigen Größe gab. Interessant ist dabei, dass
der Film gleich zu Beginn diesen scheinbaren Gegensatz in seiner ganzen
Komplexität aufzeigt und gleichzeitig bereits andeutet, was diese beiden Themen
miteinander verknüpfen wird. Man sieht ein Ritual zur Erwachsenwerdung, sowie
eine Bitte um Heirat, auf welche mit einer horrenden Forderung reagiert wird.
Was danach folgt, ist nicht von simpler Kapitalismuskritik geprägt, sondern,
und hier kommt dem Film seine ethnographische Perspektive zugute, eine Beschäftigung
mit den Mechanismen, die von den Traditionen und dem Kapitalismus ausgehen, sei
es das Brautgeld, die Bestechung von Polizisten oder der Zwiespalt zwischen den
eigenen Freunden, dem Geschäft und der Tradition zu wählen. Dabei wird die
wirklich große Gefahr nur am Rande und als laute Party-Gesellschaft angedeutet.
Das wohl einprägsamste und in diesem sehr klassisch erzählten Film auch
merkwürdig platzierte Bild ist die immer wieder als Zufluchtsort genutzte
Villa, die mitten im Nirgendwo ohne andere Häuser drumherum zu stehen scheint.
Sie symbolisiert alle Gegensätze und Konflikte, die der Filme aufmacht. BIRDS
OF PASSAGE ist in der Lage, Bilder für seine Geschichte zu finden. Die Kamera
filmt immer wieder nah die Gesichter der Figuren, lauscht ihren
bedeutungsvollen Dialogen, wechselt dann aber immer wieder zu Bildern, auf
denen eine unendliche Tiefe der Landschaft und des Bildes zu erkennen ist. Aus
dieser Tiefe des Bildes zieht er seine Kraft, er nimmt sich die Zeit, das
Kapital und das Traditionelle aufeinander zustürmen zu lassen, um dann
schließlich im Epilog alles auseinandergehen zu lassen.
Um das Kapital und seine Wirkung geht es
auch in Stepahne Brizés AT WAR. Hier wird die Geschichte einer streikenden
Belegschaft gezeigt, in deren Zentrum sich Eric befindet, welcher das
Sprachrohr der Verhandlungen mit dem bestreikten Unternehmen ist. Die Form des Films, der zu einem großen Teil in
Besprechungen mit der Geschäftsleitung, im Plenum oder beim Demonstrieren spielt, gibt
eigentlich die Stoßrichtung vor. Der fast schon dokumentarische Blick der
Kamera, die eine Beobachterrolle einnimmt und sich die Richtung von Eric
vorgeben lässt, bietet die Möglichkeit, eine sehr genaue Untersuchung der
Strukturen und Vorgänge innerhalb einer Gewerkschaft oder auch generell
innerhalb einer solchen Situation. Statt sich aber über das Kollektive, welches
im Gegensatz von Kapital und Arbeit immer schon mitgedachten werden sollte,
Gedanken zu machen, folgt der Film einer einzelnen Figur. Die Kamera ist immer
dort, wo Eric auch ist, wenn er spricht, dann hören alle zu. Dazu kommt noch
eine überflüssige Personalisierung der Hauptfigur hinzu. In die beobachtende
Ästhetik des Film will es nicht so recht hineinpassen, dass es auf einmal
wichtig ist, welche Motivation eine einzelne Figur hat. Die Bilder, die dieser
Film zeigt und das, was in ihnen geschieht, stehen in einem sehr merkwürdigen
Gegensatz zueinander. Doch diesen Gegensatz will Brizé nicht untersuchen, er verlässt
sich eher auf seine aktivistische Ästhetik, die zwar gut anzusehen ist und für
interessante Bilder sorgt, im Gesamtkontext des Films jedoch eher deplatziert
wirkt.
Für einen eher uninteressanten Beitrag
sorgte das Regiedebüt von Paul Dano, WILDLIFE. Ein sehr typischer
Sundance-Film, dem einzig und allein Carey Mulligan etwas Farbe verleihen kann.
Das Kernproblem dieses Film ist, dass er eine scheinbar komplexe und
dramatische Geschichte von einer sich entzweienden Ehe und dem Sohn, der
dazwischen steht, erzählen möchte, dabei aber niemals über die Grundzutaten
jedes Sundance-Lieblings hinwegkommt: Eine Kleinstadt in den USA, eine
vermeintlich interessante Familiengeschichte, Indie-Pop im Hintergrund und am
Ende ist dann doch alles irgendwie gut. Dabei bleibt der Film jedoch hängen, er
hat keine Idee, die darüber hinausgeht. Jake Gyllenhall spielt die Figur des
Mannes ziemlich uninspiriert, Mulligan scheint nur selten aus dem Korsett des
Drehbuches aussteigen zu können. Es sind bei ihr eher die kleinen Momente, die
eine Idee davon geben, mit welcher Zärtlichkeit und Kraft diese Geschichte erzählt
werden müsste. Denn das sind die dominierenden Eigenschaften aller Figuren, die
aber nur an den Rändern immer mal wieder aufscheinen.
Einen sehr komplexen Film hat Ulrich
Köhler mit IN MY ROOM gedreht. Als Armin morgens aufwacht, sind auf einmal alle
Menschen von der Welt verschwunden. Er lebt von nun allein auf der Erde und
zieht sich in die Natur zurück. Interessant ist zunächst einmal, dass sich
Armin allein wesentlich wohler zu fühlen scheint, als mit anderen Menschen
zusammen. Die Welt davor ist eine, die ihm sauer aufstieß, in der er sich nicht
wohlfühlte. Es steckt einiges von der Berliner Schule in diesem Anfang, die
ruhige Kamera und die Dialoge machen den Einbruch des Rauen in Form der
Dystopie, die als erstes einen Hund umbringt, noch deutlicher. Köhler nimmt
sich alle Zeit, um in Ruhe Armins Vorstellungen von Männlichkeit und seinen Weg
zurück in den Urzustand des Menschen zu dekonstruieren. „Also, ich mag diese
Welt“, sagt Armin an einer Stelle zur einzigen Person, die ebenfalls noch auf
der Erde lebt. Er scheint das Gefühl zu haben, sich in dieser untergegangen
Welt wieder artikulieren zu können, denn dies kann er vor allem über seinen
Körper. Bisweilen ist der Film in seiner Untersuchung dabei etwas redundant und
schafft es nicht immer, sich von der Ästhetik und seiner Kritik an selbiger
ganz lösen zu können. Es sind auch immer wieder Szenen der Dopplung zu
erkennen, wie z.B. die Szene, in der Armin im Scheinwerferlicht vor einer
Tankstelle zu tanzen beginnt. Das Wesen des Subjekts ändert sich auch im
menschenleeren Bild kaum, es tritt nur, und das scheint mit Köhler These zu
sein, wesentlich offener zutage und lässt einen in den tiefen Abgrund eines
Menschen hineinblicken.
Um das Wesen eines Menschen geht es auch
in Lukas Dhonts GIRL, welcher sich mit der Geschichte der 15-jährigen Lara
auseinandersetzt, die, im Körper eines Jungen geboren, gerne ein Mädchen sein
möchte und gleichzeitig beginnt, auf eine der beste Ballettschulen des Landes
zu gehen. GIRL befindet sich in einem Spannungsfeld von verschiedenen Kräften.
Zum einen möchte die Geschichte eines Menschen erzählen, der sich im eigenen
Körper nicht wohlfühlt. Auf der anderen Seite, und das zeigt der Film auch
immer wieder in gut inszenierten Szenen, möchte Lara Ballerina werden, eine Kunstform,
die im höchsten Maße Körperkontrolle und -sicherheit erfordert. Ein Dilemma,
welches der Film zwar zeigt, aber doch mehr Interesse an den Bewegungen des
Balletttanzes und seinen Nebenwirkungen zeigt. Die Familie steht komplett
hinter Lara, sie wird kaum angefeindet, der Film richtet sein Augenmerk voll
und ganz auf seine Protagonistin und ihren Körper. Dabei ist der Vorwurf des
Voyeurismus aus einer ästhetischen Perspektive ein zwiespältiger: Zum einen ist
klar, dass die Kamera dem gemeinsamen Blick in den Spiegel selten widerstehen
kann. Andererseits passt diese Szenerie in das Konzept der völligen Offenlegung
einer Figur, wie es z.B. bei den vielen Arztgesprächen auch geschieht, in
welchen Details einer Hormontherapie und einer Geschlechts-OP erläutert werden.
Dabei verliert sich GIRL im Laufe der Zeit immer mehr und wählt einen
zwar sehr drastischen und heftigen Schlussmoment, der jedoch viel von dem
ruhigen und fast liebevollen Charakter des Films verloren gehen
lässt. Über die gesamte Laufzeit wehrt sich der Film dagegen, ein
Vorbild sein zu wollen, an einer Stelle sagt Lara selbst, dass sie kein
Vorbild, sondern nur ein Mädchen sein möchte. Doch so ganz lässt es die Bilder
nicht los, in ihnen steckt etwas, was doch zu sehr an die Oberfläche
dringen will, was sich nicht unterdrücken lässt.
Dieser Text wurde von Luca Schepers(@ArafatsSohn) verfasst.
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