Ein Jahr: Noch mehr gelesen als 2023, nicht zuletzt dank der wunderbaren Zeitschrift Volltext, die mit merkwürdigen Alexander-Kluge-Interviews und Beweglichkeit jedes Quartal versüßt. Zwei Tränen des Jahres: Kasia Niewiadoma hält vier Sekunden Vorsprung auf eine völlig aufgelöste Demi Vollering auf dem Weg nach Alpe d´Huez, Jonas Vingegaard kann in den Armen von Matteo Jorgenson und seiner Ehefrau nicht mehr. Remco Evenepoel und der Eiffelturm. Faulkner, Flaubert, Borges, Schachinger. Fast alle Jacques-Tourneur-Filme gesehen und parallel Chris Fujiwaras Meilenstein The Cinema of Nightfall gelesen. Ole Werner hält den Laden am Laufen. Alles beim Alten. Oder auch nicht: Das erste Mal ein schlechter Reacher.
Gutes außerhalb der Liste:
The Rapture – Iris Kaltenbäck
Crisis Negotiators – Herman Yau
Hit Man – Richard Linklater
Geliebte Köchin – Tran Anh Hung
Red Rooms – Pascal Plante
My New Friends – Andre Techine
You Burn Me – Matias Pineiro
The Box Man – Gakuryu Ishii
The Empire – Bruno Dumont
Favoriten – Ruth Beckermann
Die Top Ten:
Der Junge und der Reiher – Hayao Miyazaki
Zu Miyazaki ist alles gesagt, deshalb vielleicht nur so viel: Mir scheint die Thomas-Mann-Verbindung doch deutlich über Wie der Wind sich hebt hinauszugehen. So etwas wie die zweite Hälfte des Films habe ich noch nie gesehen.
Der Spatz im Kamin – Ramon Zürcher
Vielleicht sind die Zürcher-Brüder in einer Sackgasse angekommen, die Apokalypse hat mich dieses Mal nicht so sehr getroffen wie einst bei Das Mädchen und die Spinne, ihre Beobachtungsgabe und vor allem ihr Sprachgefühl bleiben bemerkenswert, ist Der Spatz im Kamin doch im Prinzip der einzige Film des Jahres, der wirklich in deutsch(sprachig)en Innenräumen spielt. Die Szene mit der Katze und der Waschmaschine übertrifft spielend das Gesamtwerk von Michael Haneke.
Let´s Go Karaoke – Nobuhiro Yamashita
Der Filmemacher des Sommers, zweimal in dieser Liste. Die Schlussszene ist mindestens mal die viertbeste des Jahres (hinter Platz 7, 2 + 1). In einem erneut schwachen Jahr für den amerikanischen Mainstream-Film, was auch die teilweise geradezu absurden Lorbeeren für schmerzhaft durchschnittliche Filmemacher wie Luca Guadagnino oder M. Night Shyamalan nicht übertünchen können, sind Yamashitas Filme wie die sprichwörtliche frische Brise an einem lauen Sommertag (von denen es in Kiel in diesem Jahr mehr gab, als die allgemeinen Ansichten über Norddeutschland es vermuten lassen würden).
All We Imagine As Light – Payal Kapadia
Trotz der Ozu-Retrospektive Anfang des Jahres und meiner langjährigen innigen Beziehung zu Claire Denis´ 35 Shots of Rum habe ich immer noch keinen Reiskocher. Genau so souverän wie ich die Entscheidung für ein Modell umschifft Kapadia in ihrem Debütfilm die üblichen Fallen des internationalen Arthouse-Films, mit wunderbaren Performances, einer angenehm schwitzigen Atmosphäre und einem Gespür dafür, wie es sich anfühlt, in einer Stadt zu sein.
One Second Ahead, One Second Behind – Nobuhiro Yamashita
Die schönste Liebesgeschichte des Jahres und vielleicht der einzige Film, der das Erbe von The Midnight After antreten kann. Ich freue mich schon auf den nächsten Sommer mit Yamashitas Filmen.
A Traveler´s Needs – Hong Sang-Soo
Da ja bekanntlich nichts langweiliger ist als zu erfahren unter welchen Umständen jemand einen Film gesehen hat, erspare ich mir die Mutmaßungen darüber, ob der täuschende Anstrich der Schludrigkeit des neuen Hong-Films wohl im Festivalkontext noch wohltuender, weil geradezu befreiend von teuer produzierten und weitgehend ahnungslosen Qualitätsfilmen wirkt.
Suspended Time – Olivier Assayas
Normalerweise mache ich um die Selbstbetrachtungen von Olivier Assayas einen recht großen Bogen, weder Die wilde Zeit noch seine karrierestartenden Jugendfilmen liegen mir wirklich am Herzen, doch die grandiose Irma Vep Serie hat mich meine Position zumindest für die Zukunft überdenken lassen. Suspended Time ist ausschweifend, unfokussiert und unstet, doch Assayas findet im Laufe des Films die Wahrheit über das erwachsene Leben mit Geschwistern. Ach, und eh: Begrabt mich in dem Movistar-Weltmeistertrikot von Alejandro Valverde!
Verbrannte Erde – Thomas Arslan
Misel Maticevic ist älter geworden und die Stadt hat sich verändert. Noch eher als der oft bemühte Michael Mann muss ich an Johnnie To denken, dessen Meisterschaft sich auch und vor allem in seiner Schauspielerführung und in der Darstellung der Beziehung zwischen Städten und ihren Bewohnern zeigt. Der einzige Film des Jahres, der in deutschen Außenräumen spielt.
Im letzten Sommer – Catherine Breillat
Wahrlich einer der Filme des Jahres, Lea Drucker ist unglaublich als die böseste und gemeinste Figur des Kinojahres und Breillats Unterlaufen von dekadenlang eingeübten Konventionen des französischen Autorenfilms hat nichts von seiner Radikalität verloren. Ganz oben auf der "Wer ist denn dieses schreckliche Kind?"-Skala. Und die im Schlussbild aufgeworfene und extrem beunruhigende Frage, was jetzt eigentlich bleibt.
The Beast – Bertrand Bonello
Die Jahre geh´n vorüber
und keiner hält sie an,
doch eines kehrt immer wieder,
worauf man sich verlassen kann.
(Rolf Zuchowski – Same procedure as last year)
Und zum Abschluss zehn neue Lieblingsfilme 2024:
Games of Love and Chance – Abdellatif Kechiche
Tess – Roman Polanski
Petite Solange – Axelle Roepert
Sklavin des Herzens – Alfred Hitchcock
Linda Linda Linda – Nobuhiro Yamashita
Swing Girls – Shinobu Yaguchi
Die Liebe einer Blondine – Milos Forman
The Flame and the Arrow – Jacques Tourneur
Labyrinth of Dreams – Gakuryu Ishii
Die Vergessenen – Luis Bunuel
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