Zehn Filme, die
mich durch das Jahr begleitet haben.
10. Favoriten (Ruth Beckermann)
Aus der Schule
in die Schule hineingehen. Es ist nicht risikolos, Politik über den Schulkosmos
beobachten zu wollen. Glücklicherweise weiß Beckermann, dass ein solcher Film
erstmal kein bestimmtes politisches Programm braucht, sondern ein Interesse an
dem, was er beobachtet. Das Politische liegt nicht in einer thematischen
Setzung, sondern in der Art und Weise, wie der Film den Schüler*innen zuschaut,
sie sich entfalten lässt und am Ende sogar versucht, Trost zu spenden. Hier geht
es nicht um dokumentarische Realität, sondern um die Frage, wie und wo sich
Gesellschaft beobachten lässt. Herrn Bachmann nicht unähnlich, beobachtet Beckermann
zwar auch Individuen, aber viel stärker eine Institution und so etwas wie
Alltag an einem Ort, an dem Besondere immer mit dem Alltäglichen zusammenfällt.
Kultur ist vielleicht wirklich etwas, was man macht, aber nicht oft.
9. Dahomey (Mati Diop)
Wo in politischen
Debatten zurzeit allerlei Unsinn über Postkolonialismus erzählt wird, taucht die
bauchige Stimme des Objekts Nr. 26 auf und fegt alles Vage beiseite, um Raum
für das Konkrete in der Fiktion zu schaffen. Das Material schreibt die
Geschichte. Bilder braucht es erstmal nicht, die Tonspur
erzählt alles. Nicht nur werden Gegenstände nicht hierarchisiert, auch das Bild
übernimmt hier nicht den Film, sondern der Ton. Da kann das Bild auch gleich
schwarz bleiben. Die filmische Setzung der Statue-Stimme bezieht alle zu
sehenden und zu hörenden Objekte als potenziell Sprechende und Träumende mit
ein, ohne die Spezifik der geraubten Kunst zu verlieren. Critical Fabulation,
die die Statuen zum Sprechen bringt. Raubkunst zu diskutieren, bedeutet nicht
nur, ihren Weg zu verfolgen und sie zurückzubringen, sondern auch den Blick auf
die Lücke zu lenken, welche das Verschwinden der Objekte reißt.
8. Twilight of the Warriors: Walled In (Soi
Cheang)
Ein Stadt-Architektur-Action-Film.
Die Kowoon Walled-City in Hongkong als utopischer Ort, der eigentlich unter
chinesischer Kolonialherrschaft steht. Der Film erschließt sich diesen Ort über
Actionszenen, über die Bewegung des Kämpfen, die durch die schwer zu
durchschauende Mythologie des Films zunehmend absurde Züge annimmt, aber nie in
ein reines Kämpfen verfällt. Es geht um den buchstäblichen Kampf für die eigene
Identität, die in der Walled City immer fragil und nach außen hin unsichtbar
ist. Wohnen, Arbeiten, Schlafen findet in kaum voneinander getrennten Räumen
statt, Arbeiten tut man ohnehin mal hier, mal dort, das Essen ist vorzüglich
und der Rest wird sich schon regeln, solange man zusammenhält. Einen Überblick
über das Ganze zu bekommen macht wenig Sinn, weil im nächsten Moment sowieso
alles wieder anders aussehen kann. Ein Ort, der von außen völlig
unübersichtlich wirkt, sich aber durch diese spezifische Architektur dem
Zugriff der Herrschaft der Großstadt entzieht. Hier kann man verschwinden, braucht
keinen Ausweis, um jemand zu sein. Das ist utopisch, sicherlich in gewisser Weise
auch verklärend, aber es nimmt einen stets beweglichen und hoffnungsvollen
Blick auf das Zusammenleben im Minoritären ein. Gleichzeitig denkt der Film
immer bis zur nächsten Ecke, an der schon wieder eine Abzweigung oder eine
Kämpfer*in lauern könnte.
7. Hit Man (Richard Linklater)
Ein Umgang mit Kino-Mythen
(der Auftragskiller als Erfindung des Kinos), der so viel Spaß an der
Verkleidung und an dem Screwball-Element seiner eigenen Konstruktion hat, dass
er sich nie der Plotorientiertheit unterwirft. Spielen und Verkleiden macht
viel mehr Spaß und wenn sich die Identität einmal in Bewegung gesetzt hat, kann sogar der Philosophieprofessor auf einmal hot werden. Selbst in die Falle
des populärphilosophischen Metakomment tappt Linklater nicht, weil alles hier
zum reinen Verweis auf das wahnsinnig spaßige Spiel wird. Der Höhepunkt wird
über Handy-Bildschirme, Polizei-Abhörungen und sich umeinander rum bewegende Körper
erzählt. Alles darf ins Bild und kann potentiell zum Gegenstand der Umarbeitung
des Selbst genutzt werden. Eine der tollsten Montagen dieses Jahres: Glen
Powell (auch toll: Anyone But You & Twisters) passt sich seinen Kund*innen
an und trägt in einer nicht endenden wollenden Abfolge von Szenen immer neue Verkleidungen.
6. Girlfriends and Girlfriends (Zaida Carmona)
Rohmer wartet
schon im Titel, dann auf dem Plakat, später im Kino, wird aber selbstbewusst umgearbeitet
und überschrieben. Zaida Carmona spielt Zaida, schreibt selbst am Drehbuch aber
nicht des eigenen Films, sondern eines Films. Überall wird geflirtet und geknutscht,
wird über Kunst geredet und dann auch wieder doch nicht. Spaß soll es alles
machen und wenn man eine gemeinsame Ebene gefunden hat, ist alles möglich. Viel
wird über Blicke erzählt, nicht nur intensive Flirts, sondern auch ein
gegenseitiges Beobachten. Der Film ist nicht nur sehr lebendig, sondern auch
toll darin, verschiedene Ebenen immer schon mitzudiskutieren, ohne sie allzu
offen thematisieren zu müssen. Die ökonomische Schicht, die wir hier beobachten
und die Rastlosigkeit, die nicht so sehr generationell aufgeladen wird, sondern
aus einer bestimmten Lebenssituation heraus gedacht wird, in der man sich für
manches dann doch einmal zu alt fühlt, scheinen immer wieder durch die Körper und
Bilder der Figuren hindurch. Was am Ende konkret passiert und bei dem ganzen
Umhergewusel rauskommt, bleibt angenehm offen. Und dann ist das Verlieben in
die Partnerin der besten Freundin auch nicht das Ende der Welt. Du hat mir
gerade noch zu meinem Glück gefehlt.
5. Ivo (Eva Trobisch)
Ein Film, der Dinge laufen lässt, weil sie sich sowieso nicht aufhalten lassen. Ein Film über ein Auto in dem Ivo ihr Leben verbringt, immer in Bewegung, um dann zu Menschen zu kommen, die auf das Ende der Bewegung warten. Bilder des Alltäglichen, die aber nicht durch den Tod konterkariert werden sollen, sondern, im Gegenteil, dessen Alltäglichkeit und Routiniertheit betonen. Daraus entsteht eigentlich nichts, keine Tragikomik oder ähnlicher Quatsch, sondern es ist wie es ist. Viel interessierter ist Trobisch an dem Drumherum, an der Verschiedenheit von Menschen, die nicht gut oder schlecht sind, sondern einfach sie selbst sind. Hier etwas richtig zu machen ist ohnehin illusorisch. Eigentlich ist Ivo auch ein Film, der sich nur über das Licht erzählen lasst, das mal von der Abendsonne aus ins Auto hineinragt, mal im Inneren einer Wohnung durch seine Abwesenheit Dunkelheit zulässt. Metaphorisch lässt sich das alles nicht lesen, sondern als eine Umgebung, als das Drumherum einer Situation, die viel zu groß ist, um sie auf Metaphern herunter zu dampfen. Ein Film, der sich vor nichts versteckt und keinen Rückzugsort mehr bietet, sondern in sich selbst und seinen Beobachtungen aufgeht.
4. Verbrannte Erde (Thomas Arslan)
Gesehen in der bösen B-Stadt und damit am Ort der Leere, die der Film beständig beobachtet. Nichts ist mehr los auf den Straßen, die Gentrifizierung hat die Stadt getötet. Hier kann man, darin ist er dem Soi-Cheang-Film nicht unähnlich, nur noch ums Überleben kämpfen. Trojan liest gerne Architekturzeitschriften, weil sich von dort aus Einbrüche am besten planen lassen. Selbst das Ausrauben eines Museums wird abstrakt, lässt sich zwar immer noch mit Waffen und Autos vollziehen, aber das Konkrete an der, nun ja, Arbeit verschwindet. Ein wahnsinnig präziser Film, der übers Licht, über Autofahrten, über Gebäude und die Personen in ihnen und über die Abwesenheit eines Stadt-Lebens eine ganze Gesellschaft erzählt. Genau der Film für und über eine Stadt, die mit der Umbenennung der Verti Music Hall in Uber Eats Music Hall ganz zu sich selbst gekommen ist.
3. The Beast (Bertrand Bonello)
Eine James-Lektüre,
aber eher als Lektürevorschlag, denn als Interpretation. Léa Seydoux als
hauptberufliche Temperaturprüferin von Schaltkreisen sollen die Gefühle ausgetrieben
werden, damit sie in der KI-Zukunft eine zuverlässige Arbeitskraft sein kann. Ein
schwebender Film, der keine Grenzen kennt und eher von einem Gefühl motiviert ist
als von einer Narration. Twin Peaks: The Return schwebt über allem, das namenlose
Grauen, das sich nicht materialisiert, aber immer präsent ist. Die größte Angst
von Léa Seydoux, die hier ihre Rolle, aber auch sich selbst als Schauspielerin
spielt, ist, diese Angst, die zugleich aber auch das Empfinden von Nähe und Zuneigung
ermöglicht, nicht mehr spüren zu können. Kaum ein Film hat in den letzten
Jahren so viele Spuren gelegt, die noch nicht auserzählt sind, sondern ein Anbauen
ermöglichen, wie z.B. die Auseinandersetzung mit der Incel-Kultur, die über
mediale Betrachtungsweisen auf brutale Weise erfahrbar gemacht wird. Bonello
begreift Film nicht als Ganzes, als etwas, das immer nach Vollständigkeit
strebt, sondern, im Gegenteil, als immer schon fragmentiert. Und Kunst auch als
etwas, das wir noch brauchen werden, when the cold wind begins to blow.
2. All We Imagine as Light (Payal Kapadia)
Eine Zweckgemeinschaft
im Krankenhaus und Zuhause. Ein Stadtfilm, ja, aber eigentlich von hinten aufgezäumt
doch eher ein Strand-Film. Als Krankenpfleger*innen in Mumbai, das aber auch
schon lange nicht mehr denen gehört, die darin wohnen, suchen beide ihren
eigenen Umgang mit der Stadt. Eine Umarmung mit einem Reiskocher, der so etwas
wie ein Verweis auf etwas unbestimmtes da draußen, das sich zum Schluss nur in
der Fiktion einlösen wird. Kapadia beobachtet das moderne Indien, dessen
hindunationalistische Ausrichtung unter Modi in der allgemeinen Begeisterung über
die Modernisierung des Landes untergeht. Ein großer Film, weil er liebevoll mit
seinen Figuren umgeht, weil er die Mühen ihres Lebens als Mischung aus
persönlichen und sozialen Situationen erstnimmt und ihnen im letzten Teil eine
Reise ans Meer ermöglicht, die im schönsten Bild enden, das ich dieses Jahr im
Kino gesehen habe: Ein langer, entfernter Blick auf drei Frauen, die bei einer unendlichen
letzten Runde sitzen und eine Lichterkette gefunden haben. Der Rest bleibt
offen.
1. The Other Way Around (Jonás Trueba)
Eine sich stetig wiederholende Situation, die immer lustiger wird, je öfter man sie ansieht. Ein Paar, das seine Trennung feiern möchte und nach und nach ihr ganzes Umfeld dazu einlädt. Ein ständiges Gespräch beim Essen, beim Trinken, ein Ende zu feiern, als sei es ein Anfang. Eine sehr lustige comedy of remarriage, einmal kommt Cavells Buch sogar ins Bild, und ein Film, der sich selbst diskutiert. Im Spiel miteinander kehren beide wieder zueinander zurück. Gleichzeitig ein Film, der über eine reine comedy of remarriage hinausragt. Nichts hat mich in diesem Jahr so berührt wie Itsaso Aranas Spiel. Ihr immer skeptischer werdender Blick, die Verunsicherung ob der Trennung und des eigenen Umgang im Schnittraum damit. Das Umeinander-Herum-Spielen von Ale und Alex in ihrer Wohnung, das gemeinsame Filmschauen im Schnittraum und der Vater, der für nichts verantwortlich ist. Gleichzeitig geht es um keine spezifische Trennung (die Gründe für die Trennung werden nie erwähnt), sondern eine spielerische Haltung zu sozialen Beziehungen. Am Ende bleibt die Community um einen herum, ob man nun eine Hochzeit oder eine Trennung feiert. Ein leichter und warmer Film, so schön und frei wie kein zweiter in diesem Jahr.
Gedankenreste:
The Bear (Staffel
1-3): Als unterhaltsame Workplace-Serie begonnen, geht es spätestens ab Staffel
2 sehr viel stärker um die Bedeutung von Arbeit und Community. Essen spielt in
der Form des Fine Dinings als Handwerk und Tätigkeit eine Rolle, was genau Carm
& Sid dort kochen, bleibt eigentlich unklar (mit Ausnahme eines
sensationellen Omletts). Tolle Einzelfolge: Marcus in Kopenhagen (2x04), Richie
im Sterne-Restaurant (2x07). Thank you Chef.
Mauern (She She
Pop): Vergiss nicht zu genießen.
The Iron Claw
(Sean Durkin): Geschwistergemeinschaften, eine noch harmloser gehaltene
Familiengeschichte und die Bedeutung des Wrestlings für die amerikanische Kultur.
Unendlich traurig.
Only Murders in the
Building (Staffel 4): Weiterhin wechselhafte Qualität der einzelnen Folgen, im
Ganzen aber immer noch eine der schönsten Serien, weil sie sich frei vom
Quality-TV-Getue macht und an das Fernsehen glaubt.
kleine feuer (Paula Hartmann): Zu wahr um schön zu sein.
Zehn neue
Lieblingsfilme im Jahr 2024:
1. News from
Home (Belgien 1977, Chantal Akerman)
2. Trenque Lauquen
(Argentinien 2022, Laura Citarella)
3. An Autumn’s
Tale (Hongkong 1987, Mabel Cheung)
4. Letter from
an Unknown Woman (USA 1948, Max Ophüls)
5. Love Streams
(USA 1984, John Cassavettes)
6. Armee im
Schatten (Frankreich 1969, Jean-Pierre Melville)
7. Linda Linda
Linda (Japan 2005, Nobuhiro Yamashita)
8. Suit Yourself
or Shoot Yourself: The Hero (Japan 1996, Kiyoshi Kurosawa)
9. Lou n’a pas
dit non (Schweiz 1994, Anna-Marie Miéville)
10. Walking and
Talking (USA 1996, Nicole Holofencer)
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