Das schönste Bild des Jahres wie jedes Jahr ein Deich an der Nordsee, das schönste Kino-Bild eines von der Ostsee. Eine lange Sommerwanderung über die tschechische Grenze wird mit Pommes & Bier am See beschlossen. Der große 4:0-Heimsieg gegen Mainz 05 am letzten sommerlichen Wochenende an der Weser. 10 Jahre Hinterland. Die letzten Tage des Bistro Aida (wo irgendwas nicht stimmte). Die Eintracht-Frauen. Siegfrieds mechanisches Musikkabinett (Rüdesheim). Sandra Bullock & Parker Posey. Die Bücher von Emine Sevgi Özdamar. Schnitzelessen im Solzer. Der längste Sommertag mit Apichatpong Weerasethakuls A Conversation with the Sun und dem Musuem of No Art. Maria Schrader in Keiner liebt mich (Dörrie). An Expert In A Dying Field (The Beths). Die Plastic World-Ausstellung in der Schirn. Der lange und letzte Riverdale-Sommer. Verifiziert singt vom Suzuki Swift in der Brotfabrik. Ich weiß nicht, warum ich dir das erzähle, das ist die Art Sachen, die niemand wissen braucht. (Madame Nielsen)
Zehn Filme, mit denen Ordnung im Jahr behauptet werden
kann.
10. The Fabelmans (Steven Spielberg)
Ein glücklicher Film, weil Spielberg mit der Einfahrt des
Zuges und den leuchtenden Augen von Sammy Fabelman anfängt, aber nicht dort
stehenbleibt. Vielmehr geht es um ein Ineinanderlaufen von biographischen und
filmischen Bildern, die einander beeinflussen ohne Kopien des jeweils anderen
zu sein. Das Leben beeinflusst die Bilder und ebenso gut können wir im Kino das
beeinflussen, was uns im Leben passiert. Neben den vielen schönen, dezidiert
auf ihren eigenen Status als Spielberg-Bilder in jeder Hinsicht verweisenden
Bildern und Momenten, ist The Fabelmans vor allem ein wunderbarer Gruppenfilm
über eine jüdische Familie, die zusammenbleiben möchte, auch wenn es überall
Bruchstellen gibt. Michelle Williams als Mitzi Fabelman öffnet in jedem Moment
neue Räume für Sammy und für uns. In ihrer Darstellung kommen die sich immer
wieder ineinanderschiebenden Ebenen des Films zusammen. Ein herzzerreißender
Moment: Burt lehnt sich im Kino lachend zu Mitzi, die sich im selben Moment mit
der gleichen Geste in die andere Richtung dreht.
9. Mein Falke (Dominik Graf)
Warme Bilder und ein Falke, der eine buchstäbliche andere
Perspektive einnimmt. Die Sicht von oben, vorsichtig, dann immer mutiger, im
Bewusstsein, jederzeit verschwinden zu können. Die forensische Biologin Inga,
die ihren Beruf insofern zu ihrem Lebensinhalt gemacht hat, als dass sie sich
der Endlichkeit des menschlichen Lebens stets bewusst ist und in gewisser Weise
von ihr überzeugt ist. Ingas stetiger Kontakt mit dem Falken verzahnt ihre
Perspektive auf das Lebe mit der Sicht in Freiheit von oben und bringt etwas
bei Inga ins Wanken. Die aus der neuen Perspektive entstehenden Bilder
konfrontieren sie mit sich selbst und ihrem Versuch, aus sich selbst
herauszukommen. Schönerweise erzählt der Film aber keine große Umwandlungsgeschichte,
sondern mehr davon, wie viel Leben eigentlich im eigenen Leben steckt und dass
es um kleine Momente geht, in denen sich doch nochmal etwas verschiebt. Man
kann nur vermissen, was mal da war.
8. Tagebuch einer Pariser Affäre (Emmanuel Mouret)
Vermutlich einer der besten Mouret-Filme, weil er all
das, was in den vorherigen Filmen an vielen Stellen schon toll war, noch stärker
konzentriert. Die erste Szene des Films erzählt im Prinzip bereits alles über
die beiden Hauptfiguren, denen sich der Film angenehmerweise beinahe
ausschließlich über ihre Handlungen und Bewegungen nähert. Die von beiden stets
als gänzlich unverbindliche Affäre bezeichnete Beziehung zeigt sich in den
Bildern des Films als Geschichte zweier Verliebte, die sich ihre Gefühle
füreinander bis zum Schluss nie wirklich eingestehen können. Wenn sich ihr
Gespräch in die Nähe des Unaussprechlichen bewegt, werden die Bilder auf einmal
still und schauen ganz genau hin, wie etwas Unterdrücktes in den Gesichtern und
Köpfen der beiden auftaucht. Ihre vermeintliche Gegensätzlichkeit, der eine
unsicher und tollpatschig, die andere selbstbewusst und klar, sorgt trotz der
sehr reduzierten Settings für einen dynamischen und beweglichen Film, in dem es
immer darum geht, etwas nicht auszusprechen, was offensichtlich ist. Zum Glück
gibt es das Kino, in dem sich eine solche Beziehung in etwas anderes verwandeln
kann, indem die Zuschauer*innen erkennen, dass Liebe nicht verbalisiert werden
muss, weil sie in den Gesten und Bewegungen der Menschen immer schon
artikuliert wird.
7. Showing Up (Kelly Reichhardt)
Wieder ein Vogel, der etwas in Bewegung setzt, und wieder
Michelle Williams, die einen Film einnimmt und in ihrem Spiel Offenheit und
Geschlossenheit zusammenbringt wie kaum jemand sonst. Reichhardt interessiert
sich für das Konkrete und den Produktionsprozess der Kunst. Künstlerische Kreativität
ist als alltäglicher Prozess in die Strukturen des Alltäglichen und damit auch
des Sozialen und Politischen eingebunden. Wie soll man arbeiten, wenn das warme
Wasser bei einem zuhause nicht funktioniert oder man eine verletzte Taube
versorgen muss? Die Hauptfigur Lizzie versucht inmitten eines Dramas des
Alltäglichen, das nie sehr schlimm ist, sie aber auch nie so richtig zur Ruhe
kommen lässt, ihre Skulpturen zu produzieren und ihre Würde zu bewahren.
Lizzies Blick auf die Künstler*innen um sie herum, und nur wenige
Schauspieler*innen können alleine mit ihrem Gesicht und ihrer Bewegung im Raum
so etwas erzählen, verrät eine Unsicherheit, die selbst der größte Erfolg nicht
verschwinden lassen wird. Die Neugierde und Ernsthaftigkeit, mit der Reichhardt
dabei auf den nicht-großstädtischen Kunstbetrieb schaut, erzählt sehr viel mehr
über das Kreative in der Kunst, als es viele andere Kunst-/Kulturbetriebsfilme
tun. Die Ernsthaftigkeit des Films und seine famosen Beobachtungsbilder fließen
ineinander ohne dabei stets die eigene Größe betonen zu müssen. Ein sanfter
Film.
6. Saint Omer (Alice Diop)
Ein großer Gerichtsfilm über Gerichtsfilme, der die
Konstruiertheit von Wahrheit nicht als Erkenntnis sondern als Ausgangspunkt nimmt.
Wir sehen einer Beobachterin beim Beobachten zu. Das Publikum im Gerichtssaal
ist vom Filmpublikum nicht zu trennen, wenngleich sie nicht identisch sind. Am
Ort, an dem die Wahrheit am höchsten gehalten wird und an dem sie gleichzeitig
immer diskursiv wird, führt Diop in aller Konkretion die Verknüpfung von
Subjektivität, Kolonialismus und Wahrheitsfindung auf. Die Bilder sind gesetzt
und starr, halten aber etwas offen, in das die Schriftstellerin Rama eintreten
kann und in dem sie sich selbst erkennt. Identitäten und Subjekte sind immer
schon Konstruktionen, die aber trotzdem in einer gesellschaftlichen Realität
entstehen. Und in Ramas Blick auf Laurence Coly und dem Versuch, aus ihr eine
mythische Figur zu machen, drückt sich das unterdrückte Wissen aus, nicht aus
der eigenen Konstruktionen fliehen zu können.
5. Dry Ground Burning (Adirley Queirós,
Joana Pimenta)
Explizite Bilder, Orte, Straßen, Menschen. Bilder als
Widerstand. Bolsonaro ist da, man muss mit dem Kino gegen ihn kämpfen. Das
Illegale und auch das Politische als völlig anders gelagerte Bildpolitiken, als
Kampf um Straßen und Körper. Feministische Bildpolitik als
Sich-Das-Bild-Nehmen. Große Bilder: Eine Frau auf der Höhe der Wolken überblick
ihr Reich. Zwei sich küssende Frauen nehmen den ganzen Bildrahmen ein. Der
Kampf geht weiter.
4. Fallende Blätter (Aki Kaurismäki)
Wenn die Filme auf dieser Liste abseits ihres
Veröffentlichungszeitraums etwas miteinander verbindet, dann vielleicht, dass
die meisten von ihnen sehr konzentrierte und gleichzeitige sehr offene Filme
sind. Die beiden Liebenden in Fallende Blätter sprechen ihre Liebe nie wirklich
aus, aber alles um sie herum wird aus ihrer gemeinsamen Perspektive beobachtet.
Ein Film, der ganz den Gefühlen zweier Menschen und den Räumen, in denen sie
sich bewegen, verschrieben ist. Die Innenräume sind oft leer, werden aber von
etwas anderem, von den Figuren Kommenden gefüllt. Anders als in manch anderem
Kaurismäki-Film bleibt die Randständigkeit des Daseins nur oberflächlich
bestehen und wird gerade von Alma Pöystis Lebendigkeit immer wieder in Bewegung
gebracht. Kaurismäkis Bilder leuchten dieses Mal vermutlich auch deshalb so
sehr, weil sie in der puren und reinsten Form der Liebe ein Thema haben, das in
sich schon eine unendliche Offenheit mit sich bringt.
3. Music (Angela Schanelec)
Nur jemand wie Schanelec kann den Mythos so zersetzen und
ihn dabei zum Bild werden lassen. Die Wärter*innen spielen Tischtennis, ein
Mixtape taucht auf, später schießt Grosso bei der WM 2006 das 1:0. Dann noch
eine wahnsinnig tolle Gesangsszene und die Ödipus-Versatzstücke. Noch stärker
als die vorherigen Schanelec-Filme interessiert sich Music für Momente, die zu
Bilder werden, weil sie nicht sinnhaft sind. Die feste Überzeugung, dass der
Körper alles und noch mehr über die Menschen erzählt und das Sprechen keine
überlegene, sondern primär eine körperliche und tonale Geste ist. Die Körper
sind gesetzt, im gewissen Sinne eingesperrt im Mythos. Schanelecs Bilder
befreien die Körper aus dem Gefängnis der Geschichte. Der Mythos muss nicht
dekonstruiert werden, weil er keine Erzählung ist, sondern etwas, das über den
Bildern schwebt.
2. Mit Liebe und Entschlossenheit (Claire Denis)
Ein Paris-Film, ein Sprach- und Körperfilm, aber vor
allem einer über innere Dunkelheit. Wenn Vincent Lindon auf dem Balkon steht
und telefoniert, beobachtet Juliette Binoche ihn mit uns von innen. Sie kann
ihn sehen, aber nicht verstehen. Sie sind zusammen und lieben sich, aber es
schwebt etwas über ihnen, dass sich jederzeit einlösen kann und das auch nie
verschwinden wird. Eine dritte Person, die Unruhe in ein Leben bringt. Das
eigentliche Drama ist nicht der Einfall dieser Person in das Leben, sondern der
verzweifelte und scheiternde Versuch der beiden, sich alles zu sagen und Dinge
zu klären, die sich nicht klären lassen. Ein Film darüber, dass man nicht aus
seiner Haut kann und auch Kommunikation die eigenen Ängste nicht beruhigen kann.
Am Ende bleibt man immer im eigenen Ich gefangen.
1. Roter Himmel (Christian Petzold)
Der letzte große Sommer, wenn es die Arbeit nur zulassen
würde. Ein Film ganz aus der Sicht von Leon, der sich selbst keine Erfahrungen
erlaubt und nur neidisch auf die anderen blicken kann, die etwas tun und sich
ins Leben hineinbegeben. Ein Autor, der glaubt, nur aus der Distanz schreiben
zu können, dabei aber nur Neid auf alle um ihn herum empfindet, weil er sich
genau diesen Sommer eigentlich wünscht. Ein Film der Blicke, des Beobachtens,
des Zuschauens und des Wunsches, gesehen zu werden. Paula Beer rezitiert Heine,
zweimal. Die Wallners legen sich vom ersten Moment an über den Film. Love’s
gonna make us blind, deshalb lässt Leon nicht zu, dass Nadja sich ihm öffnet,
sondern hält sie auf Distanz. Ebenso wie bei Undine liegt die Rettung in der
Liebe, im Zulassen von Erfahrungen und Gefühlen und in der Hinwendung zu Welt.
Für jene welche sterben wenn sie lieben.
Gedankenreste:
Riverdale (Staffel 7): Befreit von jeglichen Konflikten
oder Handlungen, beginnt die Serie für die letzte Staffel einfach noch einmal
von vorne und gibt jegliche Ordnung auf, bis sie sich zum Finale noch einmal im
Fernsehen sein eigenes Gedächtnis anschaut, um es anschließend sofort wieder zu
vergessen (Betty Cooper & Jughead Jones)
Going My Home (Hirokazu Koreeda): Die schönste aller
Familienserien.
Dawsons Creek: Essentieller Primetime-Soap-Moment,
Michelle Williams, Katie Holmes, Joshua Jackson, True Love. In der Spätphase
mit schwankender Qualität, aber die ersten drei Staffeln erinnern daran, wie
groß das Leben im Fernsehen aussehen kann.
Frau Bu lacht
(Dominik Graf): Ich glaub der Winter hört gar nicht mehr auf.
Tage des Verlassenwerdens (Elena Ferrante): Was passiert,
wenn das eigene Leben zusammenbricht und sich nicht mehr heilen lässt, weil es
vorher schon kaputt war.
The White Lotus (Staffel 2): Super, super, super.
Der Kopflohn (Anna Seghers): Die Größte von allen.
A Conversation with the Sun (Apichatpong Weerasethakul):
Das Kino ist das, was wir daraus machen.
10 neue Lieblingsfilme im Jahr 2023
1.
The Daytrippers (USA 1996, Greg Mottola)
2.
Wanda (USA 1970, Barbara Loden)
3.
History Is Made At Night (USA 1937, Frank Borzage)
4.
Él (Mexiko 1953, Luis Buñuel)
5.
Petite Solange (Frankreich 2021, Axelle Ropert)
6.
Pather Panchali (Indien 1955, Satyajit Ray)
7.
Peppermint Soda (Frankreich 1977, Diane Kurys)
8.
Two Lovers (USA 2008, James Gray)
9. Millenium Mambo (Taiwan 2001, Hou Hsiao-hsien)
10. Gentlemen Prefer Blondes (USA 1953, Howard Hawks)
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