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Dienstag, 24. November 2015

Kritiken zum 29. Internationalen Filmfest Braunschweig



Das 29. Internationalen Filmfest in Braunschweig ist Geschichte. Viele Picknickkörbe sind im Kino geleert worden, an unpassenden Stellen wurde gelacht und wir haben uns trotzdem einige Filme angesehen und wollen selbstverständlich darüber berichten. Außerdem haben wir dieses Mal einen Gastautor gewinnen können.

 
Dearest – Peter Chan
David: Sehr souverän inszeniertes Entführungsdrama aus Hongkong, dass sich emotional packend (auch wenn das natürlich ein eher abschreckendes Attribut für einen Film ist) mit der scheinbar sehr akuten Problematik von Kindesentführungen und -verkäufen in Hongkong und China auseinandersetzt. Ziemlich spannend erzählt und mit einem sehr schönen Ende, ein wahrlich runder Film, wenn auch vielleicht etwas zu lang und an einigen Stellen nicht gänzlich befreit von sehr plakativen Emotionalisierungsversuchen, jedoch als Familien- und Beziehungsdrama gut geglückt.

Anomalisa-Charlie Kaufmann
Luca: Der neue Film von Charlie Kaufmann hat genau diese Schwierigkeiten auch, nur wird hier alles noch schlimmer durch die Tatsache, dass die Figuren bloß animierte Puppen sind. (Wesentlich schöner und interessanter ist übrigens das Puppentheater-Projekt von Giselle Vienne, welches sie in diesem wunderbaren Interview mit Deutschlandradiokultur vorstellt: http://www.deutschlandradiokultur.de/choreografin-gisele-vienne-warum-spielen-sie-gerne-mit.970.de.html?dram:article_id=332907) Erwähnen sollte man noch, dass alle Frauen in diesem Film die gleiche Stimme haben. Was theoretisch als halbwegs passende Metapher für die Entfremdung von seiner Umwelt durchgehen könnte, entwickelt sich in diesem Film zu einer mittelschweren Katastrophe, da sich die Stimmen trotz allem ein wenig unterscheiden und diese Tatsache beinahe überhaupt nicht thematisiert wird. Es wirkt beinahe so, als ob hier jemand Kafkas „Das Schloss“ gelesen hat. Denn genauso wirkt der Film. Er zeigt viele recht surreale Szenen, ein Individuum, das sich in der Welt nicht mehr zurechtfindet. Doch in den Momenten, in denen der Film dies nicht nur andeutet, sondern auf den Punkt bringen möchte, zerbricht er daran. „Anomalisa“ mag technisch recht beeindruckend sein, aber im Endeffekt hat er extrem wenig zu bieten. Er nutzt seine visuellen Möglichkeiten in keiner Weise adäquat. Die großartige Sendung „Shaun das Schaaf“ nutzt die Möglichkeiten des Stop-Motion wesentlich effektiver. Der Film gefällt sich viel zu sehr darin, dass er angeblich die große Frage nach dem Sinn des Lebens behandelt. „Anomalisa“ scheitert jedoch grandios an diesem Vorhaben.

David: Im Vorfeld von mir eigentlich als eines der größten Highlights meines Festivalprogramms erwartet, enttäuschte der neue Kaufman-Film außerordentlich. Die (ästhetischen?) Vorteile der Stop-Motion-Puppen aus dem 3D-Drucker im Vergleich zu herkömmlichen Stop-Motion-Figuren erschlossen sich bis zum Ende nicht, inhaltlich bewegt sich ANOMALISA weitesgehend auf Teenagerprosa-Niveau – die Einsamkeit des Menschen angesichts der modernen Gesellschaft, soziale Entfremdung und die Suche nach dem Menschen für den Rest des Lebens wurden schon weit weniger klischeebehaftet und anrührender verhandelt als in diesem Film, der scheinbar jeden außer meiner Wenigkeit bis ins Innersten berührt zu haben scheint. Aber das war bei HER ja auch schon so – konnte ich auch nicht verstehen. (ANOMALISA basiert allerdings auf einem Theaterstück und zumindest dieses stelle ich mir durchaus reizvoll vor).

Oblivion Season – Abbas Rafei
David: Auch so ein Film, der mich relativ ratlos zurückließ. Die Geschichte rund um eine muslimische Frau, die nach einem Unfall ihres Mannes für ihren Lebensunterhalt aufkommen muss, bietet einiges an politischer Brisanz und die Beziehung zwischen dem gewalttätigen Mann und seiner aufopfernden Frau, die von seiner Familie nicht akzeptiert wird, ist tatsächlich sensibel aufbereitet. Jedoch nimmt der Film gegen Ende eine etwas merkwürdige Wendung, die sich durchaus als Bestätigung der Ordnung zwischen Mann und Frau lesen lässt, sowie den Frauen ein Interesse an der Aufrechterhaltung des Zwangsverhältnisses zuschreibt. Zwiespältig.

Footnote – Joseph Cedar
David: Gut geschriebene Familienkomödie aus Israel, die für ihr Drehbuch auch bei den Filmfestspielen in Cannes ausgezeichnet wurde. Angenehmerweise bemüht sich Joseph Cedar nach Kräften, seine Komödie, quasi als Antithese zu vielen Hollywood- und European-Arthouse-Komödie der letzten Jahre, auch wirklich nach einem Kinofilm aussehen zu lassen, gönnt sich allerlei visuelle Spielereien und hat einige wirklich gute Witze zu bieten. "Footnote" ist definitiv interessanter, lustiger und schlicht besser als das Gros der (größtenteils grauenhaften) Arthouse-Familienkomödien der letzte Jahre.

Tsili-Amos Gitai
Luca: Einen Film über den Holocaust und seine Folgen zu machen, dürfte eine der schwierigsten Aufgaben sein, die es gibt. Noch schwieriger ist es allerdings, einen guten Film über den Holocaust zu machen. Genau das ist dem großen israelischen Regisseur Amos Gitai gelungen. Er zeigt den Großteil des Films seine beiden Hauptdarsteller mitten im Wald, wie sie sich auf der Flucht vor den Nazis im Unterholz verstecken. Die Inszenierung des Films ist extrem minimalistisch und bis kurz vor Ende des Films bleiben beide in einer Mulde im Unterholz versteckt. Diese Inszenierung ist jedoch keinem Selbstzweck geschuldet, sondern erzeugt eine extrem unangenehme und intensive Atmosphäre. Es zeigt in eindrücklichen Bildern und ohne viele Worte, wie unvorstellbar ein solches Leben sein muss. Tsili muss tagelang ohne Essen und Trinken auskommen, wird von einem fremden Mann vergewaltigt und im Hintergrund hört man immer wieder die leisen Geräusche des Krieges. Durch die sehr physische Inszenierung, gelingt Gitai ein sehr besonderes Gefühl beim Zuschauer zu erzeugen. Es schaudert einen, wenn man dabei zusehen muss, wie sehr diese Menschen leiden. Allerdings ergötzt er sich auch nicht am Leiden der Menschen, sondern macht deutlich, dass man sich hierbei schlecht fühlen soll. Tsili steht dabei für eines von vielen Opfern des größten Verbrechens der Menschheitsgeschichte. Und Filme, wie dieser, sorgen dafür, dass man auch 70 Jahre danach, immer noch darüber sprechen muss.

Pepi, Luci, Bom und der Rest der Bande – Pedro Almodovar
David: DVD-Projektionen in Kinosälen gehören gesetzlich verboten, nichtsdestotrotz ist der Debütfilm des spanischen Filmemachers eine unterhaltsame Farce, die sich in radikaler Art und Weise mit den Überbleibseln des Faschismus franquistischer Prägung und den Problemen der noch jungen spanischen Demokratie auseinander setzt. Die neu gewonnene, grenzenlose (?) Freiheiten leben die titelgebenden Frauen in erster Linie (was sich sicherlich als einer der roten Fäden in Almodovars späteren Filmen wiederfindet) in sexueller Hinsicht aus. Natürlich noch sehr roh und einige der Episoden wirken sehr unausgereift. Auf 16mm-Material gedreht, veranlasste die Körnigkeit des Bildes eine Besucherin hinter mir zu einem Kommentar, dass "sich die Leute in Hollywood mit ihren Filmen mehr Mühe geben würden".

Journey to the shore-Kiyoshi Kurosawa
Luca: Die Idee, ein Paar nach dem Tod des Mannes, durch ihr gemeinsames Leben reisen zu lassen, ist schon sehr spannend. Wenn man es dann auch noch so umsetzt, wie Kiyoshi Kurosawa, dann ist alles bereitet, für ein großes Kinoerlebnis. Was soll man zu “Journey to the shore” nun schreiben? Er ist einer der besten Filme dieses Jahres, wenn nicht sogar der letzten fünf Jahre. Die Darsteller sind allesamt fantastisch, die Geschichte ist wunderschön und eine brillante Auseinandersetzung mit dem Thema Tod. Der Film hat einen angenehmen Rhythmus, er nimmt sich viel Zeit, um seine kleinen und großen Geschichten zu erzählen. Jede einzelne Aufnahme ist ein eigenes Phänomen und fügt sich dennoch in ein großes Gesamtbild ein. Die Kamera begleitet die beiden Protagonisten auf ihrer Reise durch die Vergangenheit und lässt den Zuschauer an dieser sehr intimen Erfahrung teilnehmen, ohne ihn zu manipulieren. Die angenehm zurückgefahrene Darstellung von Tadanobu Asano und Eri Fukatsu trägt ihr übriges zu einem sehr guten filmischen Gesamtbild bei. Die Klavier-Szene ist besonders hervorzuheben und war neben dem letzten Roy-Andersson-Film mein schönster Kinomoment in den letzten Jahren.
Sicherlich ist der Film an einigen Stellen etwas pathetisch. Aber wie sagte schon der große Christian Kracht: “Interessant ist lediglich Übertreibung und das Pathos – alles andere ist langweilig, leider.”
David: In Sachen aktueller japanischer Film bin ich unbedarfter als ich es gern wäre, nichtsdestotrotz gefiel mir Kiyoshi Kurosawas neuer Film "Journey to the Shore" ganz ausgezeichnet. Oberflächlich als Geschichte über Geister angelegt, eine Frau wird von ihrem längst tot geglaubten Ehemann mitgenommen, auf die titelgebende Reise, welche von vielen Begegnungen mit anderen Verstorbenen oder auch noch lebendigen Geistern der Vergangenheit geprägt ist. Kurosawa gelingt es, die eigentlich sehr schweren und großen Themen des Films mit einer Leichtigkeit zu verhandeln, die beispielsweise Anomalisa völlig abzugehen scheint. "Journey to the Shore" ist ein Film über das Abschiednehmen, über Liebe und nicht zuletzt auch ein ungemein positiver Film, wird Mizuki doch die Möglichkeit gegeben, ihren Frieden mit ihrem Ehemann zu machen und nun einen neuen Lebensabschnitt zu beginnen – ohne jedoch penetrant auf ein Happy-End hininszeniert zu sein. Visuell ist "Journey to the Shore" von einer geradezu betörenden Schönheit, die sich jedoch mehr in Details wie der von Blättern bedeckten Wand in der Wohnung eines (ebenfalls bereits verstorbenen) Postbeamten äußert, denn in tatsächlicher Ausgestelltheit. Als einziger von mir bei diesem Festival gesehene Film (mit Abstrichen gilt das vielleicht auch noch für "Dearest", der aber seine Emotionalität viel offensiver verkauft als es "Journey to the Shore" tut) scheint "Journey to the Shore" wirklich von großen Dingen zu erzählen und dabei trotzdem Schönheit und Liebe im Detail zu finden. Mindestens in den Top 5 des Jahres, denke ich.

The Heroes of Evil-Zoe Berriatúa
Luca: Der Untertitel von Heinrich Bölls berühmtem Roman “Die verlorene Ehre der Katharina Blum” lautet: Wie Gewalt entstehen und wohin sie führen kann“. Liebend gern hätte Zoe Berriatúa in seinem Debutfilm „The Heroes of Evil“ genau das erklären wollen. (Böll untersucht das allerdings in einem anderen Zusammenhang) Er scheitert jedoch vornehmlich an sich selbst.
Die Geschichte des Films wird gut erzählt und es gibt auch einige schöne Einstellungen und Ideen, gerade der Rausch der drei Protagonisten nach dem Konsumieren von Drogen wird sehr schön inszeniert. Der Film zeichnet sich stets durch recht unausgewogene Szenerien aus, die sich teilweise allerdings gut in das Gesamtbild des Films einfügen. Das Hauptthema des Films ist die Inszenierung und Darstellung von Gewalt und ihrer Aura, die die drei Jugendlichen umgibt. Damit hat der Film allerdings erhebliche Probleme. Die Darstellung ist weder vollkommen übertrieben und ästhetisiert, noch ist sie schmerzvoll und intensiv. Es geschieht einfach. Man mag das nun anfangs noch kaum als Kritikpunkt benennen können, da es schließlich darum gehen soll, was die Ausgrenzung von Menschen für Folgen haben kann. Allerdings reflektiert der Film zu keiner Sekunde, was die Jugendlichen dort tun, er ergötzt sich vielmehr an der vollkommen sinnlosen und letztlich auch in nichts begründeten Gewalt. Es wird kaum mal darauf eingegangen, warum die Jugendlichen dies eigentlich machen (die Begründung, das sie in der Schule gehänselt werden, ist etwas dünn.) Er verliert sich lieber in der auswuchernden, ästhetisch nicht gerade ansprechenden Inszenierung von Gewalt, die mit klassischer Musik hinterlegt wird. Dies lässt den Verdacht nahelegen, dass hier jemand „Clockwork Orange“ gesehen, aber nicht im mindesten verstanden hat. Gegen Ende des Films und erst als jemand gestorben ist, kommen zwei Figuren dann doch noch darauf, dass Gewalt vielleicht keine optimale Lösung ist. Doch die einzige Möglichkeit den Strudel der Gewalt und der Ausgrenzung zu beenden, sehen sie nicht darin z.B.: die Polizei einzuschalten oder ihr aller Verhalten zu reflektieren und daraus eine moralisch und sozial verträgliche Lösung zu ziehen. Nein, hier wird Gewalt mit Gewalt bekämpft. Wenn die Gewalt schon nicht aufhört, dann muss man halt denjenigen umbringen, der sie ausübt. Mit Fortschreiten der Handlung verliert sich der Film außerdem inszenatorisch immer mehr in konventionellen und unbedeutenden Einstellungen und verhält sich damit diametral zum Geschehen im Film. Es ist sehr schade, dass Berriatúa seine filmerisch guten Ansätze nicht weiterentwickeln kann und auch thematisch leider sehr danebengreift. Dennoch bleibt seine weitere Entwicklung spannend, da bereits in diesem Debutfilm die Ansätze für gutes Kino zu erkennen waren.

After Spring Comes Fall – Daniel Carsenty
David: Prinzipiell nicht uninteressanter Debütfilm über eine geflüchtete Syrerin, die über ein paar unglückliche Zufälle vom syrischen Auslandsgeheimdienst gezwungen wird, Oppositionelle im deutschen Exil zu bespitzeln. Trotz des "erschreckend aktuellen" Themas kein besonders relevanter Film, jedoch für einen Debütfilm mit einigen interessanten Regieeinfällen gesegnet. "After Spring Comes Fall" wirkt an einigen Stellen noch sehr roh und unfertig, wie ein Erstling von jemandem, der vielleicht noch zwei oder drei Filme (und ein besseres Drehbuch) braucht, um mal etwas wirklich richtig tolles zu machen. Nichts was man sehen müsste, aber zumindest streckenweise recht interessant.

Ma Folie-Andrina Mracnikar
Jean: Es ist Liebe auf den ersten Blick für Hanna (Alice Dwyer) und Yann (Sabin Tambrea), als sie sich in Paris in einer Bar kennenlernen. Hanna kommt aus Wien und Yann ist so verschossen, dass er ihr kurz darauf in ihre Heimat folgt, wo beide ihre Liebe ausleben. Recht schnell entpuppt er sich aber als krankhaft eifersüchtig und mit psychopathischen Charakterzügen ausgestattet und so zerbricht die Beziehung auch wieder so schnell wie sie angefangen hat. Doch Yann verschwindet nicht einfach, vielmehr beginnt er Hanna zu stalken und ihr brutale Drohvideos zu schicken. Und diese sind wirklich nichts für zart Gesottene, da gibt es Blut, zerschnittene Augen und Horrorelemente nehmen Einzug in "Ma Folie". Nun könnte man Regisseurin Andrina Mracnikar in ihrem Debutfilm Effekthascherei unterstellen, allerdings nehmen diese zwei Szenen wirklich nur einen kleinen Teil des Filmes ein und erfüllen zudem auch einen inhaltlichen Zweck, indem sie die seelischen Abgründe Yanns bildlich aufzeigen.

In der Folge entwickelt sich ein intelligentes Verwirrspiel mit Thrillerelementen, aber ohne die diesem Genre oft so immanenten, unlogischen Wendungen. Vielmehr wird es immer schwerer zu unterscheiden, wann Yann Hanna eigentlich wirklich stalkt und in welchen Fällen Hanna vielmehr paranoid geworden ist und Dinge überinterpretiert - was Stalkingopfern ja oft wirklich widerfährt. So ist Yann zwar ein ziemlich unsympathischer Psychopath, doch auch Hanna wird immer mehr zur ambivalenten Figur und steht nicht als reiner Engel da. Das ist spannend, interessant, glaubwürdig und gut gespielt. Ein starker Erstling, der den diesjährigen "First Steps Award" gewann, bisher aber leider noch keinen Kinostart in Deutschland vorweisen kann.

The Fire-Juan Schnittmann
Luca: Ich denke, wir leben in einer Gesellschaft am Rande des Kollaps, aber wir sind uns nicht im Klaren über ihre Fragilität und fügen immer weitere Spannung hinzu, weil wir fest glauben, dass sie nie zerbrechen wird“, so wird Juan Schnitman auf der Homepage des Internationales Filmfests Braunschweig zitiert. Vielleicht keine besonders neue, aber durchaus eine verwertbare Erkenntnis. Was als solide Bestandsaufnahme einer Beziehung beginnt, endet in einer mittelschweren Katastrophe. Das Problem von “The Fire” ist nicht sein Stil oder seine Geschichte. Vielmehr verkommen filmische Mittel hier zum reinen Selbstzweck. Eine wacklige Kamera, teilweise recht experimentelle Szenen sind völlig irrelevant aneinandergereiht. Die Montage wirkt unangenehm Es werden Dinge angedeutet, die dann aber wieder verschwinden. Als hätte Schnittmann sich mitten im Film überlegt, doch noch etwas gänzlich anderes zu machen. Er kann sich nicht entscheiden, ob ihm der Plot als völlig irrelevant erscheint oder er ein eher konventionelles Drama drehen möchte. „The Fire“ kritisiere „die Schnelllebigkeit und Auswirkungen des modernen Kapitalismus“. So drückte es die Ansagerin vor Beginn des Kinos aus. Und selbst diese zwar simple, aber durchaus verwendbare Kapitalismuskritik geht vollkommen unter. Es wird anfangs angedeutet, dass es bei allen Streitereien des Paares schlussendlich nur um Geld geht. Dies wäre eine durchaus interessante Betrachtungsweise, da sich hier auch Möglichkeiten der Auseinandersetzung mit Rollenbildern innerhalb einer Beziehung ergeben würden. Doch auch dieser Ansatz wird verworfen. Die größte Problematik des Films scheint mir eine öfter aufkommende bei Debutfilmen zu sein: Der Film möchte viel zu viel erzählen, anstatt sich auf gewisse Aspekte zu fokussieren. Dadurch entsteht ein nicht zu überblickendes Durcheinander, ein Gemisch aus unpassender visueller Gestaltung, einer nicht gerade stimmigen Montage, zwei Darstellern, die kaum etwas gegen den Rest des Films ausrichten können und einer simplen Kapitalismuskritik. 

Paulo Coehlo's Best Story – Daniel Augusto
David: Die ohnehin schon nicht sonderlich interessante Quintessenz von Coelhos literarischem Schaffen, angereichert mit Biopic-Konventionen und einem langweiligen Abklatsch von dem vor- und drittletzten Assayas-Film, auf die Leinwand gebracht. Schnarchöde inszeniert, weiß PAULO COEHLO'S BEST STORY nicht einmal schauspielerisch zu überzeugen, sondern flüchtet sich, natürlich in einer vermeintlich unkonventionellen Erzählstruktur, in Plattheiten über Liebe, Freiheit und Rock 'n' Roll. Vergessenswert.

Margarita, with a Straw – Shonali Bose
David: Hätte fürchterlich schiefgehen können, diese Coming-of-Age-Geschichte über ein an Cerebralparese erkranktes Mädchen, welches ihren Weg aus einer eher konservativen indischen Familie an die New York University macht. Dank des guten Drehbuchs, welches die Geschichte seiner Protagonistin (ergänzt um erste lesbische Erfahrungen und eine krebskranke Mutter) zu keinem Zeitpunkt zu problematisieren sucht, ist MARGARITA, WITH A STRAW jedoch derart warmherzig und liebenswert, dass die offenkundigen Schwächen (behäbige Regie, stellenweise fast campige Charaktere) kaum ins Gewicht fallen.


Two Nights til morning-Mikko Kuparinen
Luca: Bereits zu Beginn des Festivals habe ich mir einen Film angesehen, der fast komplett in einem Hotel spielt. Wie oben zu lesen war, konnte mich dieser Film nicht unbedingt überzeugen. „Two Nights til morning“ konnte mich dann aber wieder einigermaßen mit dem filmischen Raum Hotel versöhnen. Kuparinen erzählt eine nette, kurzweilige Liebesgeschichte zwischen zwei Wanderern, die sich fern außerhalb ihrer Heimat kennen und schätzen lernen. Er umgeht teilweise recht geschickt genretypische Konventionen, verfällt am Ende aber leider in recht klischeehafte und öde Auflösungen. Filmisch geschieht hier nicht viel Spannendes, es werden kaum interessante Kameraperspektiven oder Bilder inszeniert, alles ist recht konservativ gefilmt. Interessant ist in diesem Film ist allerdings die Auseinandersetzung mit dem Ort „Hotel“. Jaako spricht in einer Szene davon, dass das Hotel ein spezieller Ort sei, da man nach dem Verlassen der Gäste, bereits nach wenigen Stunden nichts mehr davon sehen könne, dass diese Menschen dort gewesen seien. An dieser Stelle wird es interessant, denn der Film macht dies recht deutlich. Dabei lässt der Film einen Raum für den Zuschauer, der seine eigenen Erfahrungen mit dem Hotel reflektieren kann. Der Film wirft trotz der zarten Liebesgeschichte zwischen den beiden Hauptfiguren, die Frage auf, ob ein noch so schönes Hotel, wirklich ein angenehmer Ort ist. Gerade Jaako, der als DJ oft auf Reisen ist und viel Zeit in Hotels verbringt, scheint das durchaus zu bezweifeln. Und damit kann man diesen Film auch in gewisser Weise als Reflexion über das Reisen und das kurzzeitige Verweilen an fremden Orten betrachten. Ein durchaus interessanter Aspekt, der diesen recht konventionellen Film aufwerten kann.
Jean: Die französische Businessfrau Caroline (Marie-Josee Croze) ist Anfang 40, sexy, selbstbewusst, aber auch etwas arrogant und hat geschäftlich in Vilnius zu tun. An ihrem letzten Abend im Hotel wird sie vom etwas jüngeren finnischen DJ Jaakko angesprochen. Auch wenn Caroline vorgibt, kein Englisch zu sprechen, verbringen sie den Abend und schließlich auch die Nacht miteinander. Während Jaakko sich wirklich angezogen von ihr fühlt, ist er für sie nur ein Abenteuer. Früh morgens haut sie ab um heimzufliegen, doch die Geschichte spielt im April 2010 und gerade ist der Vulkan Eyjafjallajökull ausgebrochen und damit der gesamte Flugverkehr in Europa zusammengebrochen. Caroline ist gestrandet, das Hotel ausgebucht - die Rettung: Jaakko, der ihr anbietet doch in seiner Suite zu wohnen...

Ein bisschen erinnert der finnische Film in (primär) englischer Sprache vom Grundkonzept her etwas an "Lost in Translation". Doch Mikko Kuparinens melancholische Romanze "Two Nights Till Morning" ist definitiv keine Kopie und auch keine platte Romanze, sondern vielmehr ein eigenständiges und gelungenes Portrait zweier Charaktere, die sich nach und nach kennenlernen und dabei auch Vorurteile abbauen. Insbesondere Caroline fasziniert dabei als interessante, vielschichtige Frau, die letztlich Probleme mit engen Bindungen hat und entsprechend ambivalente Gefühle auslöst: Mal ist sie wirklich unsympathisch, dann wieder anziehend und dann hat man irgendwo auch wieder Mitleid mit ihr. Das sehr kluge Drehbuch spielt mit den Erwartungen, bietet gelungene kleine Wendungen auf und stellt mehrfach Querverbindungen im Film her. Wenn zum Beispiel Jaakko darüber philosophiert, wie die Anwesenheit in Hotels keine Spuren hinterlässt und nach der Abreise dort alles so ist, wie es vorher war, sieht man das ein paar Minuten später auch in einer schönen Bildercollage. Generell ist Kuparinens Film auch atmosphärisch gelungen, mit dem Einfangen verschiedener Orte, Tageszeiten und mit einer unaufdringlichen, aber passenden Hintergrundmusik ausgestattet. Für mich eine kleine Perle des europäischen Kinos und trotz nur 84 Minuten Laufzeit mit mehr inhaltlichem Gewicht und Nachwirkungseffekt als viele größere Produktionen. 


Unter dem Sand-Martin Zandvliet

Jean: Irgendein vermeintlicher Experte in der Deutschen Wehrmacht kam während des Zweiten Weltkrieges auf die glorreiche Idee, die kompletten dänischen Strände zu verminen, davon ausgehend, dass die Allierten ihre Landung dort durchführen würden. Aber natürlich kam alles anders: der D-Day fand in der Normandie statt, das Dritte Reich verlor den Krieg - aber die hunderttausenden Minen in Dänemark blieben. Was also tun, fragt sich das dänische Militär nach Kriegsende. Irgendwie müssen diese verdammten Minen ja weg. Auf Anraten der britischen Verbündeten entscheidet man sich schnell dafür, dass die dänischen Soldaten schon genug Leid erlitten haben. Die Minen sollen mal schön diejenigen wegschaffen, die sie da auch hingebracht haben: Die verhassten Deutschen, von denen man ja passenderweise eine ordentliche Menge an Kriegsgefangenen zur Verfügung hatte. Und so deckt Martin Zandvliet in seinem beeindruckenden Drama auf, wie Dänemark gegen die Genfer Konvention verstieß und junge deutsche Soldaten des Volkssturms nach Kriegsende bei der Minensäuberung der dänischen Strände verheizt wurden.

Zandvliet hatte nur wenig Budget zur Verfügung, machte daraus aber das Bestmögliche. Der Film, dessen Originaltitel "Land of Mine" ein so gelungenes wie makabres Wortspiel vornimmt, spielt quasi nur an einem einzigen Strandabschnitt, wo Helmut, Ludwig, die Brüder Lessner, Wilhelm, Manfred, August und Co. unter dem Befehl des strengen und gnadenlosen Oberleutnants Carl (Großartig: Roland Möller) ihr Leben riskieren. Bei der Figurenzeichnung der Deutschen hätte man sich durchaus etwas mehr Hintergründe und Tiefe gewünscht, dafür ist "Unter dem Sand" spannend und zieht den Zuschauer sehr schnell in den Bann der Geschichte. Bald weiß jeder, wie man so eine Mine in der Theorie eigentlich entschärft und wo die Tücken und Gefahren des Ganzen liegen. Darüberhinaus zeigt Zandvliet die Eigendynamik menschlicher Bindungen, die auch vor dem kriegsgeschädigten Deutschenhasser Carl nicht haltmachen, der sich immer mehr zu einer ambivalenten Figur entwickelt. Ein faszinierender Film, der einen schaudernd daran denken lässt, wie viele Gebiete auch heute weltweit noch vermint sind.

David: Zugebenermaßen war ich während "Unter dem Sand" schon von den ersten Anzeichen meiner anschließenden Krankheit geplagt und vielleicht deswegen auch nicht mehr so freudig-frisch wie zu Beginn des Festivals, nichtsdestotrotz bin ich ziemlich sicher, dass mir "Unter dem Sand" auch bei bester Gesundheit nicht besonders viel Freude gemacht hätte. Weltkriegsfilme, in denen der einzige Charakter, der daraufhinweist, dass die (natürlich schrecklichen) Dinge, welche die Siegermächte oder ehemals besetzten Länder mit den Deutschen gemacht haben, nicht von ungefähr kamen, sondern auch eine Vorgeschichte haben, die einzige Figur ist, die als wirklicher Bösewicht gezeichnet ist, sind nicht mein Ding. Aus der prinzipiell spannenden Idee einer filmischen Umsetzung der Landminenentschärfung holt der Regisseur leider inszenatorisch viel zu wenig raus, sodass der Film auch mehr ohne wirkliche Highlights oder Überraschungen vor sich hin läuft, um die Leerphasen zwischen den Explosionen zu füllen, was bei einem Actionfilm sicherlich vertretbar wäre, bei Kriegsdrama jedoch schlicht öde ist (was übrigens für das erschreckend spannungsarme Drehbuch ebenso gilt. Schlechter Film.

Neon Bull – Gabriel Mascaro
David: Hat mich nicht erreicht. Schöne Texturen sicherlich, sehr gut geführte Kamera und durchaus glaubwürdige Schauspieler, doch das Geschehen rund um eine merkwürdige, vermutlich landestypische, Art des Rodeo entwickelte als solches für mich keinen Weg oder Zugang zu einer tieferen Beschäftigung. Irgendwo unter den Texturen lauert hier bestimmt ein tieferer Sinn, mir erschloss er sich jedoch bis zum Schluss nicht. Aber die eingeschobenen erotischen Tänze im pulsierenden Neonlicht waren hübsch inszeniert und ein angenehmer Stilbruch. Sicherlich auf einer gewissen Ebene interessant, aber schlussendlich nicht mein Bier.

Diese Texte wurden von Jean Mikhail(@JeanMunk), David Schepers(@fantazeromane) und Luca Schepers(@ArafatsSohn) verfasst.

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