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Samstag, 8. Januar 2022

Das ist nur der Anfang-Ein unvollständiges Tagebuch einer Jia-Zhangke-Reihe



I WISH I KNEW (31. Oktober 2019)
Sehr eigentümlicher Film, der einer wunderschönen Idee entspringt und in dem Anfangsbild der verregneten Straße auch eine große Poesie in sich zu tragen scheint, dann aber in eine sehr kühle Betrachtungsweise verfällt. Ungewöhnlich ist vor allem, dass Jia Zhangke die Sprechenden zwar im wahrsten Sinne portraitiert, aber selten über die zum Teil sehr schönen Erzählungen hinausgeht. Seine Geschichte der urbanen Veränderung ist hier mehr Behauptung als tatsächlich zu erkennen.

XIAOSHAN GOING HOME (7. November 2019)
Sowohl materiell als auch narrativ sehr roher und grober Film, der in seiner Eigenheit aber einen interessanten Formansatz mit sich bringt. Die immer wieder wechselnden Erzählweisen, die Videotext-Einblendungen, der schlechte Ton, die mal beobachtende, mal wackelnde Kamera, die Musik, all das fügt sich so gar nicht in ein harmonisches Bild zusammen, welches seinen späteren Filmen noch inhärenter ist. Ein Formexperiment, das sich eigentlich nur auf der Straße und in kleinen Räumen abspielt, das Drama des angedeuteten Kapitalismus und am Ende auch einfach die tragische Geschichte eines emotionslosen Menschen.

THE WORLD (28. November 2019)
Famoser Film. Die sehr klassischen Mittel bieten die Grundlage für eine große Erzählung, die sich aber nie wie eine Behauptung anfühlt, sondern immer bei seinen Figuren und damit tatsächlich in der Welt zu sein. Überhaupt geht es viel um die Frage, wie man in der Welt ist und was für Konsequenzen damit einhergehen. Dazu kommt eine schwebende, fast poetische Kamera, die für jedes Bild die richtige Einstellung, für jeden Vorgang die richtige Bewegung findet und so auch den Wechsel zwischen den Welten, den Übergang zwischen den Geschichten zu einem großen Gedicht machen. Zwischen den vielen großartigen Momenten sticht die Szene in der Karaoke-Bar hervor, in der Tao und Anna, die sich in einer Tiefe verstehen, die vielleicht nur das sprachliche Unverständnis hervorbringen kann, wiedertreffen und sich, das Schicksal der anderen nur erahnend, für einen kurzen Moment weinend umarmen. Die zweieinhalb Stunden fühlen sich niemals lang an und eben weil Jia Zhangke so ein großer Erzähler ist, ist die letzte Minute des Films so wahrhaftig, dass der Zuschauer lange nach dem Film nur stumm dasitzen kann: „This is just the beginning.“

DONG (12. Dezember 2019)
Ein interessanter Gegensatz von klaren filmischen Strukturen und einem sehr verästelten Bezugssystem. Der Filmemacher beobachtet den Maler, während der Menschen beider Geschlechter beobachtet und malt. Ein sehr ambivalentes Verhältnis von Geschlechtern und vor allem Bildern, zu denen sich Jia Zhangke nicht immer ganz äußern möchte. Man kann die Widersprüchlichkeiten, die sich aus der Kunstgeschichte im Verbund mit Filmgeschichte förmlich spüren. Berührend ist die Szene, in der die Familie des Wanderarbeiters die Fotos zu sehen bekommt und die Situation den beiden nicht unbedingt entgleitet, aber einen sehr konkreten Kontrapunkt zu den Szenen der Kontemplation vorher schafft. Am stärksten ist der Film, wenn er sich den Modellen zuwendet und sie alleine zeigt, als selbstständige Figuren, die sonst nicht sein können, weil sie immer nur in Relation zum Künstler entstehen. Ein Film, den man nochmal und nochmal anschauen sollte.

24 CITY (16. Januar 2020)
Der Film, in dem Fiktionales und Dokumentarisches am meisten zusammenfällt und fast ununterscheidbar wird, vielleicht auch deshalb, weil sich die Fiktionen bei Jia Zhangke immer so nah an der Realität befinden. Das Vergehen der Fabrik steht im Zentrum, eine sehr genaue Beobachtung von Arbeitsprozessen. Doch wie immer ist es kein neutraler oder rein beobachtender Blick, sondern der Film findet gerade in der zweiten Hälfte immer wieder den Weg zur Liebe der Menschen. Darum scheint es mir hier, neben der Verhandlung einer bestimmten Vorstellung von Geschichte, auch zu gehen: Die Erzählung der Einsamen, die in keinem augenfälligen Zusammenhang mit 24 CITY und der Fabrikarbeit steht, aber in diesem Film, und das ist das visuelle Beindruckende, eine sehr konkrete Verbindung zum Leben der Arbeiter egal welcher Generation bekommt.

PLATFORM (23. Januar 2020)
Vielleicht der bisher am freiesten imaginierende Film, was eine interessante Symbiose mit den vor allem durch Musik, aber auch Stimmungen gekennzeichneten, klaren historischen Brüche eingeht. Die historische Situation ist so deutlich markiert, dass der Rest des Films sich sehr viele Freiheiten nimmt, eine visuell und narrativ extrem komplexe Geschichte zu erzählen, der zu folgen nicht immer einfach ist. Ein interessanter Effekt, und das scheint mir für viele Filme von Jia Zhangke zu gelten, ist, dass viele der sehr langen Szenen für sich stehen können und über ihre Eigenständigkeit bereits sehr viel erzählen, sich aber wiederum durch die Montage auch in den Kontext des Filmes einschreiben, gewissermaßen sind es flexible Bilder. Ähnlich wie in THE WORLD gibt es auch hier wieder große Einzelmomente, etwa wenn die Darsteller*innen einem Zug hinterlaufen, aber überwiegend geht es dem Film nicht um einzelne Momente, sondern um Bewegungen in alle Richtungen und mit allen Bezügen. Die narrative Offenheit und der Wille zur Bewegung, der sich gerade in der zweiten Hälfte auch aus der Struktur der Reise über die Dörfer ergibt, zeichnen diesen Film aus, der ebenso wie viele anderen Filme von Jia Zhangke auf der einen Seite immer an einer historischen Erzählung und einem Nachspüren von Entwicklungen innerhalb der chinesischen Gesellschaft interessiert ist, auf der anderen Seite aber auf keinen Film ein Historienfilm ist, sondern seine Beobachtungen über Liebesbeziehungen, Figurenschicksale und narrative Detailverliebtheit erzählt.
(Vielleicht liegt hier ein wichtiger Zugang zum Werk von Jia Zhangke: Bei allen Bezügen und Beobachtungen der chinesischen Gesellschaft, argumentieren die Filme immer sehr stark über das Visuelle, Narrative, also: Filmische.)

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